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In der Schweizer TV-Serie «Der Bestatter» ist die Krimiwelt noch in Ordnung. Bestatter Luc Conrad bringt die Leiche direkt auf den Stahltisch und unter das Skalpell von Rechtsmediziner Dr. Semmelweis, während Kommissarin Giovanoli alsbald tapfer gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpft. Was im fiktiven Aargauer Obduktionsraum so malerisch inszeniert ist, läuft im realen Zürcher Institut für Rechtsmedizin bereits ganz anders ab. Wenn eine verstorbene Person in das Institut am Irchel gebracht wird, legt man sie dort als Erstes in den Computertomografen.
«Der CT-Scan ist quasi das Eintrittsticket», sagt Institutsleiter Michael Thali. Mit der Staatsanwaltschaft ist das so abgesprochen: Ohne vorgängige CT-Untersuchung keine Obduktion. Und in gar nicht so seltenen Fällen kommt gerade durch diese «Eingangskontrolle» heraus, dass es gar keine herkömmliche Autopsie mehr braucht, oder zumindest nicht eine sofortige. Wird in der Bildgebung zum Beispiel eine geplatzte Aorta sichtbar, ist klar, dass diesem aussergewöhnlichen Todesfall kein Verbrechen zugrunde liegt. «60 bis 80 Prozent der forensisch relevanten Todesursachen wären heute allein mit den Methoden der virtuellen Autopsie feststellbar», erklärt Michael Thali.
In Realität sind es gegenwärtig rund 10 Prozent. Die Rechtspflege wolle eben auf der sicheren Seite sein, meint Thali. In gewissen Bereichen ist das virtuelle Verfahren der traditionellen Obduktion jedoch überlegen. So zum Beispiel bei Todesfällen im Wasser. In solchen Fällen müssen die Rechtsmediziner herausfinden, wie sich Gas und Flüssigkeit im Körper verteilen, erklärt Thalis Mitarbeiter Wolf Schweitzer: «Mit der klassischen Autopsie sieht man die Bläschen einfach nicht, so klein und flüchtig sind sie.» Im CT hingegen zeichnen sie sich ganz deutlich ab.
Die Zürcher Rechtsmediziner haben ihr Verfahren der virtuellen Autopsie wortschöpferisch «Virtopsy» genannt. Um Licht ins Innere von verstorbenen Personen zu bringen, verwenden sie neben der Computertomografie je nach Sachlage auch die Magnetresonanztomografie (MR). Während die CT knöcherne Verletzungen und lufthaltige Strukturen gut darstellen kann, eignet sich die MR bei Verletzungen an Organen wie Herz, Gehirn oder Leber. Auch Veränderungen im Weichteilmantel lassen sich mittels MR gut erkennen, zum Beispiel das Ausmass von Verletzungen nach Verkehrsunfällen.
Zusätzlich gibt es noch die postmortale Angiografie, bei der ein Kontrastmittel in die Blutgefässe gespritzt wird. Damit ist es möglich, kleinste Befunde im Herz-Kreislauf-System nachzuweisen, die durch Stiche oder im Zuge von Operationen entstanden sind.
Neben diesen inneren Werten sind natürlich auch die äusseren wichtig. Mit einem 3D-Oberflächenscanner zeichnen die Rechtsmedizinerinnen und -mediziner Schuss- oder Bisswunden, äussere Verletzungen von Verkehrsunfällen, Abdrücke von Schlagwerkzeugen oder Schuhsohlen massstabgetreu – und vor allem dreidimensional – auf. Zusammen mit den ebenfalls dreidimensionalen Daten von CT und MR lässt sich so der ganze Körper in 3D rekonstruieren. Die Vision von Michael Thali ist, dereinst alle diese Verfahren in einem einzigen Roboter, einem Virtopsy-Roboter, zu vereinen: «Wir schieben den Körper hinein und heraus kommt das Gutachten.» Bis es so weit ist, wird es wohl noch einige Jahre dauern.
Am Institut für Rechtsmedizin steht gegenwärtig der «Virtobot 2.0». Dieser verbindet immerhin schon CT-Scanning und 3D-Oberflächenscanning mit automatischem Instrumentenwechsel für Biopsien, also die Entnahme von feinsten Gewebeproben zur mikroskopischen Untersuchung. In einem einzigen Durchlauf sind alle diese Techniken miteinander durchführbar.
Der Vorteil auf dem Platz Zürich ist, dass sowohl die Rechtsmedizin wie auch die Polizei alles standardmässig dreidimensional scannen und dokumentieren: den Körper des Verstorbenen, die möglichen Tatwaffen und sogar den ganzen Tat- oder Unfallort. «Da sind wir weltweit führend», sagt der Vermessungsingenieur Robert Breitbeck. Er arbeitet am 3D-Zentrum in der Zürcher Innenstadt, wo die 3D-Daten des Instituts für Rechtsmedizin mit denen der Kriminaltechnik von Stadt- und Kantonspolizei zusammengefügt werden. Jetzt werden in Zürich aus den rechtsmedizinischen Daten zusammen mit den forensischen Spuren ganze Tathergänge dreidimensional rekonstruiert und nachvollziehbar gemacht.
Michael Thali begann bereits Mitte der 1990er-Jahre mit den ersten Versuchen in virtueller Autopsie. Heute kommen Interessierte aus der ganzen Welt, um am Zürcher Institut für Rechtsmedizin die Methoden der virtuellen Autopsie zu lernen. Rund 1000 Körper werden dort jährlich untersucht, bei 500 davon wird eine Autopsie durchgeführt. In Zukunft, ist Thali überzeugt, werde die Auswahl durch die virtuellen Methoden immer wichtiger. Denn es lohnt sich auch finanziell, wenn schneller und einfacher entschieden werden kann, ob es noch eine traditionelle Autopsie braucht oder nicht.
In gewissen Bereichen stösst «Virtopsy» noch an ihre Grenzen. Infektionen zum Beispiel sind mit der virtuellen Bildgebung schwer nachweisbar. Ebenso kleinste Krankheitsbilder. «Aber in unserem Bereich geht es ja meistens um Verletzungen, die Spuren hinterlassen», relativiert Thali. Auch Vergiftungen lassen sich durch die virtuelle Autopsie noch nicht aufdecken. Möglicherweise ist das nur noch eine Frage der Zeit.
Mit dem abteilungsübergreifenden Forschungsschwerpunkt «Pharmacogenetic Imaging» versucht das Institut für Rechtsmedizin, auch Gift- und Drogeneinwirkungen virtuell sichtbar zu machen. Michael Thali: «In einigen Jahren soll es möglich sein, nicht invasiv toxikologische Stoffe im Körper zu visualisieren und vielleicht sogar die entsprechenden Gene.» Schneller, genauer, nachprüfbar, archivier- und jederzeit wieder abrufbar, und erst noch ethisch unbedenklicher – Virtopsy hat viele Vorteile.