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In der Schweiz gibt es rund 500'000 Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten. Eine Krankheit ist dann selten, wenn sie in weniger als 5 Fällen pro 10'000 Einwohner vorkommt, zu chronischer Invalidität führt oder lebensbedrohlich ist. Die meisten seltenen Krankheiten betreffen jedoch lediglich einen von 100’000 Menschen oder sind sogar noch seltener.
Und doch sind die seltenen Krankheiten nicht selten: Im Durchschnitt werden jede Woche fünf neue seltene Krankheiten erstmals in einer medizinischen Fachzeitschrift beschrieben. «Es werden laufend neue Gendefekte entdeckt, die seltene Krankheiten verursachen können», erklärt Professor Matthias Baumgartner von der UZH. Der Stoffwechselexperte leitet den 2012 gegründeten klinischen Forschungsschwerpunkt für seltene Krankheiten «radiz – Rare Disease Initiative Zürich».
Eine seltene Krankheit ist in der Regel auf einen Gendefekt zurückzuführen. Entsprechend tauchen die Symptome oft bereits im Säuglings- oder Kindesalter auf. So etwa bei Julia*. Das heute siebenjährige Mädchen ist eine von Baumgartners Patienten, sie hat eine seltene Stoffwechselkrankheit, eine Methylmalonazidurie (MMA), bei der der Körper Aminosäuren nicht richtig abbaut. So kommt es zu lebensbedrohlichen Mangelerscheinungen. Zudem produziert der Körper Substanzen, die Julias Körper quasi von innen vergiften.
Die etwa 21'000 Gene des Menschen sind empfindlich – treten Defekte auf, so müssen sie nicht unbedingt gravierend sein, können aber unter Umständen grosses Leid verursachen. Wer unter einer seltenen Krankheit leidet, muss oft jahrelang von Arzt zu Arzt pilgern, bis endlich einer die richtige Diagnose stellt. Schlimmer noch sind für die Betroffenen jene rätselhaften Leiden, die bislang kein Mediziner der Welt kennt und für die es keine Namen gibt.
Für die betroffenen Familien und ihre Kinder bedeutet eine seltene Krankheit oft eine dramatische Odyssee durch die medizinischen Institutionen. Bei Julia wurde die Krankheit erst mit anderthalb Jahren erkannt. Zuvor vermutete der Hausarzt fälschlicherweise, dass es sich um eine Kuhmilch-Unverträglichkeit handelt.
Doch die Benommenheit und das Erbrechen hatten ganz andere Ursachen: Körpereigene Giftstoffe griffen Julias Körper und Gehirn an. Schliesslich erkannten die Ärzte, dass sie unter einer Methylmalonazidurie litt. Die Folgen: Julia konnte nicht mehr gehen, ihre Entwicklung war verzögert. Früher starben die Kinder an dieser Krankheit. «Heute weiss man, dass Patienten durch eine strikte lebenslange eiweissarme Diät gute Chancen haben, zu überleben», sagt Baumgartner. Doch die Giftstoffe, die nach wie vor produziert werden, zerstören langsam die Niere.
Warum gerade die Niere geschädigt wird und wie man sie schützen könnte, ist heute noch nicht bekannt. «Deshalb sind wir Klinikerinnen und Kliniker darauf angewiesen, eng mit Grundlagenforschenden zusammenzuarbeiten», sagt Baumgartner und weist auf seine intensive Kooperation mit Nierenphysiologe Professor Devuyst von der UZH hin. Die beiden Mediziner hoffen, auf Dauer gemeinsam Patienten wie Julia helfen zu können.
Die Erforschung seltener Krankheiten, meint Baumgartner, sei faszinierend und stelle eine grosse akademische Herausforderung dar, führe sie doch in ganz unbekannte Gefilde der Medizin. Erkenntnisse aus diesem Bereich könnten andere Gebiete der Medizin beflügeln: So etwa geschehen bei einem seltenen Enzymdefekt, bei dem man vor kurzem zeigen konnte, dass er zu Vergiftungserscheinungen in den peripheren Nerven führt. Interessant für die Forschenden: Auch bei Patienten mit Diabetes Typ 2 – einer häufig vorkommenden Krankheit – treten dieselben Vergiftungserscheinungen auf, berichtet Baumgartner und macht sich stark für die Erforschung der seltenen Krankheiten, ein Fachgebiet, das heute oft noch als «Stiefkind der Medizin» eingestuft wird. Baumgartner möchte nicht nur Forschende und Kliniker, sondern auch den wissenschaftlichen Nachwuchs für das Fachgebiet begeistern.
Mit den Mitteln, die Baumgartner durch die Anerkennung als Klinischen Forschungsschwerpunkt erhalten hat, treibt er nicht nur die Forschung in den Laboren am Kinderspital, am Universitätsspital Zürich und an der UZH voran – dort arbeiten verschiedene PhD-Studierende und Clinician Scientists an mehreren Forschungsmodulen – er versucht auch, Kliniker und Grundlagenforscher für die Erkundung der seltenen Krankheiten zu begeistern. Aus diesem Grund organisiert radiz seit 2013 jährlich eine Summer School.
Die Forschung zu seltenen Krankheiten erfährt im Allgemeinen eher wenig Förderung. Die Pharmaindustrie zeigt sich nur punktuell interessiert. Zudem gibt es wenig Tiermodelle, es fehlt an Diagnosestandards und wirksame Behandlungsmöglichkeiten, auch die Krankengeschichten sind nur fragmentarisch zugänglich. Das Bundesamt für Gesundheit hat dieses Manko erkannt und im September 2014 ein nationales Konzept zu seltenen Krankheiten verabschiedet.
* Name geändert.