Navigation auf uzh.ch
Die Biodiversität steht lokal und global unter Druck. Vor allem der Klimawandel und das Bevölkerungswachstum führen zu einem beschleunigten Artensterben. Auch wenn schwer vorherzusagen ist, welche Pflanzen- und Tierarten in Zukunft aussterben werden, so steigt angesichts dieses menschengemachten Wandels das Interesse an Prognosen für Ökosysteme. Verlässliche Vorhersagen würden es erleichtern, die notwendigen Entscheidungen zum Erhalt der Biodiversität einzuleiten.
Denn die Gesellschaft hängt von intakten Ökosystemen ab, die versteckte Dienstleistungen erbringen wie zum Beispiel die Bestäubung von Kulturpflanzen durch Insekten, die Filtrierung von Trinkwasser oder die Absorption von CO2 – ganz zu schweigen von der Bereitstellung von Nahrungsressourcen. Aus diesen Gründen versuchen Forschende, die Dynamik von Populationen und Arten-Gemeinschaften besser zu verstehen und zu modellieren.
Owen Petchey, Professor für Integrative Ökologie am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der UZH, entwickelt mathematische Modelle über das Verhalten biologischer Arten. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen hat er soeben in der renommierten Zeitschrift «Ecology Letters» eine wegweisende Arbeit mit dem Titel «The ecological forecast horizon, and examples of its uses and determinants» zum Stellenwert ökologischer Prognosen publiziert. Die Autoren räumen darin die bescheidene Aussagekraft heutiger Modelle ein.
Gleichzeitig plädieren die Umweltwissenschaftler dafür, die Forschung in diesem Bereich zu verstärken. Denn die Prognosemöglichkeiten seien noch lange nicht ausgeschöpft. «Verbesserte Modelle werden wertvolle Einsichten bringen», sagt Petchey im Gespräch. Für das Forschungsfeld spreche des Weiteren, dass die Umweltwissenschaften profitieren könnten, wenn die Ökologen einen prädiktiven Ansatz verfolgten.
Der Umweltforscher ist kein abgehobener Idealist, sondern ein Naturwissenschaftler mit soliden Kenntnissen in Mathematik. Die theoretische Beschreibung des Wachstums einer biologischen Population oder Gemeinschaft, die variierenden Umweltveränderungen unterworfen ist und mit Feedbacks darauf reagieren kann, ist naturgemäss hochkomplex. Entsprechend sind höhere Mathematik- und Programmierkenntnisse gefordert.
Vereinfachen lässt sich die Modellierung hingegen durch einen eingeschränkten Zeitraum. So wie es einfacher ist, das Wetter von morgen als das von übernächster Woche zu prognostizieren, so hängt auch die Genauigkeit einer ökologischen Voraussage von der Zeistpanne ab, für die sie gültig sein soll. Owen Petchey und sein Autorenteam führen deshalb einen Prognosehorizont und einen Schwellenwert ein, innerhalb dessen eine Voraussage für eine bestimmte Gemeinschaft sinnvoll ist.
Wie erwähnt, steckt die Modellierung in der Ökologie noch in den Anfängen. In der Publikation lotet das Autorenteam die Möglichkeiten anhand von Fallbeispielen aus. Als erster Modellfall dient ein einfaches System, bei dem mehrere Grössen (Wachstumsrate, Populationsgrösse, Tragfähigkeit der Umwelt) für eine hypothetische Population eines Mikroorganismus variiert werden können. Bereits nach dreissig Generationen tendiert die Prognosegenauigkeit gegen Null, danach ist eine vernünftige Aussage unmöglich.
Angereichert wurde das Modell mit zufälligen Veränderungen in der Populationsgrösse, um chaotische Umwelteinflüsse abzubilden. Sie führen wie erwartet zu einer drastischen Verringerung des Prognosehorizonts. Kleine Störungen haben grosse Wirkungen, so wie es der Schmetterlingseffekt chaotischer Systeme postuliert. Dieser besagt, dass ein Flügelschlag eines Insekts irgendwo auf der Welt weit entfernt einen Taifun auslösen kann. «Bereits ein relativ einfaches Modell kann äussere Störungen richtig abbilden», sagt Petchey.
In einer weiteren Fallstudie griffen die Autoren auf ein achtjähriges Experiment mit Mikroorganismen aus der Ostsee zurück. In diesem Experiment züchteten Forschende aus den Niederlanden eine ganze Nahrungskette, bestehend aus verschiedenen Arten von Bakterien, Phytoplankton und Zooplankton. Die im Labor während acht Jahren gezüchtete Gemeinschaft wurde zweimal wöchentlich beprobt und vermessen.
Dank diesem Langzeitversuch konnten die Messergebnisse mit den theoretischen Modellrechnungen von Petcheys Team verglichen werden. Dabei zeigte sich: Vernünftige Prognosen über das Wachstumsverhalten einzelner Arten waren im besten Fall über eine Dauer von 30 Tagen möglich. Grössere Mikroorganismen schnitten dabei besser ab als kleine. Beim kleinen Phytoplankton dauerte der Prognosehorizont weniger als zehn Tage. Etwas ernüchternd war der Befund, dass sich abrupte Populationsschwankungen einzelner Arten, die im Experiment gemessen wurden, mit den Modellrechnungen nicht prognostizieren liessen.
Die weiteren Modellrechnungen in der Publikation sind Variationen dieses Themas, wobei zum Beispiel auch evolutionäre Vorgänge untersucht wurden. Dabei ergab eine Modellierung das unerwartete Ergebnis, dass evolutionäre Veränderungen den Prognosehorizont verlängern können – und nicht wie erwartet verkürzen. Offensichtlich können Anpassungen stabilisierend wirken, was sich in einem längeren Prognosehorizont ausdrückt.
Insgesamt, bilanziert Owen Petchey, ergeben die Modellierungen dank dem Prognosehorizont «sehr nützliche Einsichten», obwohl bisher nur ein kleiner Bereich möglicher Anwendungen getestet wurde. Entsprechend propagiert der Ökologe mit grosser Überzeugung weitere Forschungen in diesem Bereich. «Prognosen aufgrund von Modellrechnungen könnten in Zukunft ein wichtiges Werkzeug sein, um ökologische Fragen zumindest teilweise zu beantworten.»
Dabei verschweigen die Autoren nicht, dass es auch Kritiker solcher Modellierungen gibt. Vor kurzem argumentierten US-amerikanische Ökologen in «Science» sogar gegen diese «prädiktive Ökologie», weil Ökosysteme inhärente Unsicherheiten besässen, die sich «wahrscheinlich nie» verstehen liessen. Stattdessen sollte man der Politik und Gesellschaft Szenarien möglicher Entwicklungen präsentieren. An den Entscheidungsträgern liege es dann, die beste Option zu wählen.
Owen Petchey findet, dass man beides tun sollte: Auf der einen Seite habe die Integrative Ökologie die Aufgabe, eine Bandbreite möglicher Zukunftsentwicklungen aufzuzeigen. Auf der anderen Seite müssten die Forschenden auch die Prognosen verbessern. «Die Schwierigkeiten sind kein Grund, es nicht zu versuchen.» Denn Prognosen können helfen, die Biodiversität besser zu schützen.