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Zum Auftakt stellte der prominente Schweizer Historiker in der ihm typischen Prägnanz klar, worin er die Unterschiede sieht zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung als Wissenschaft und Mythologie. «Letztere funktioniert primär als Hohlraum zur Erzeugung von Echoeffekten nach dem Motto ‹Wie man in die Vergangenheit ruft, so tönt es zurück›. Die Geschichtswissenschaft dagegen ruft nicht, sie fragt. Sie richtet nicht, sie berichtet und interpretiert.» Und: Geschichte bleibe nur dann relevant, wenn sie sich nicht vor öffentlichem Streit und politischen Konflikten scheue.
Wie schon Tanners Antrittsvorlesung vor 18 Jahren über den Gotthardmythos diesen Anspruch eingelöst hatte, tat es nun auch seine Abschiedsvorlesung. Darin ging er am Beispiel der Schweiz der Frage nach, ob sich derzeit die Volkssouveränität in eine Postdemokratie verwandle.
Bewegt sich die Schweizer Politlandschaft immer mehr in Richtung Antipolitik, Placebopolitik, Expertokratie, Surrogatsdemokratie und Refeudalisierung? Oder ist der Druck von aussen verantwortlich für eine stetige Aushöhlung der Volkssouveränität? Für Jabob Tanner greifen beide Sichtweisen zu kurz. Der historische Blick lege vielmehr die These nahe, «dass das politische System der Schweiz in verschiedener Hinsicht schon immer gleichsam postdemokratisch und in einiger Hinsicht auch vordemokratisch funktionierte.» Mit vier Punkten untermauerte der Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte diesen Befund.
Erstens sei der Volkssouverän lange Zeit durch harte Ausschlusskriterien äusserst beschränkt gewesen. Die 1848 eingeführte Volksherrschaft verwehrte den Frauen während 123 Jahren den Zugang. Verarmten Bürgern und weiteren Randgruppen wurden die politischen Rechte lange entzogen, die Arbeitsmigrantinnen und -migranten auf dem Werkplatz Schweiz können sich, abgesehen von wenigen Kantonen, bis heute nicht am politischen Prozess beteiligen.
Zweitens habe während der beiden Weltkriege ein Vollmachtsregime geherrscht, das weiter gegangen sei als in den meisten kriegsführenden Staaten. Tanner illustrierte diese Verdrängung des Verfassungsrechts mit einer Einschätzung des Staatsrechtlers und späteren Rektors der Universität Zürich Zaccaria Giacometti, der mitten im Zweiten Weltkrieg von einer «kommissarischen Diktatur der Bundesbürokratie» mit «autoritären und totalitären Tendenzen» sprach.
Der Bundesrat habe noch Jahre nach Kriegsende nicht vorgehabt, zur demokratischen verfassungsmässigen Ordnung zurückzukehren, sagte Tanner. So habe es bis vor kurzem keine Verfassungs- und Gesetzesgrundlage gegeben, welche die implizite Staatsgarantie für die Grossbanken legitimiert hätte. 2008 habe man im Fall der UBS auf die Notrechtsklausel zur Bewältigung ausserordentlicher Lagen zurückgreifen müssen, «die explizit für schwere Unruhen, militärische Bedrohungen, Naturkatatrophen und Epidemien gedacht war».
Drittens sei die Geschichte der schweizerischen direkten Demokratie nicht zuletzt auch eine Geschichte von organisierten Interessen und Politmarketingkampagnen mit sehr ungleichem finanziellem Mitteleinsatz. Was das Lobbying anbelange, hätten Verbände das Drohpotenzial der Referendumsfähigkeit schon vor dem Ersten Weltkrieg in ausgedehnten, sogenannten vorparlamentarischen Vernehmlassungsverfahren ausgespielt.
Und viertens hätten ausländische Einflüsse schon immer die politischen Entscheide der Schweiz geprägt, seien es die Judenemanzipation, der Gotthardvertrag, die Patent- und Betäubungsmittelgesetzgebung, in der Nachkriegszeit die Wirtschafts- und Währungspolitik oder neuerdings die Steuerpolitik. Die Schweiz sei durch ausländischen Druck und nicht via Volkssouverän in der Welt der internationalen Tax Compliance angekommen. Auch hier führte Tanner pointiert ein Beispiel an: die Umstellung vom Bankgeheimnis auf den automatischen Informationsaustausch.
Die Schweiz sei ein gutes Beispiel dafür, dass die Demokratie in ihrer historischen Entwicklung und Entfaltung keine perfekte Umsetzung der frühbürgerlichen Utopie der Volkssouveränität darstellt, sagte Tanner. Von der These, dass die Volkssouveränität durch die Postdemokratie abgelöst werde, bleibe nicht viel übrig. Die meisten Beschreibungen eines Übergangs in eine Postdemokratie seien nur plausibel, wenn sie sich auf die Nachkriegszeit beschränkten. Denn seit den 1980er- und 1990er-Jahren relativierten neue Trends diese Einschätzung, die es erst zu erforschen gelte.
Tanner nannte vier Beispiele. Global operierende Konzerne griffen «in historisch präzedenzloser Art» in die nationale Standortkonkurrenz und Gesetzgebung ein. Digitalisierung und Big Data kehrten die Kontrollmöglichkeiten und Machtbeziehungen zwischen Wahlvolk und Politikstrategen auf folgenschwere Weise um. Neue Formen einer Basisaktivierung kämen auf, die einerseits als demokratische Partizipation, andererseits aufgrund der dominierenden Rolle bessergestellter Gruppen als antiegalitäre Tendenz bewertet werden könnten. Und schliesslich bauten sich in verschiedenen Technikfeldern, allen voran in der Reproduktionstechnologie, neue Ungewissheiten auf, die einem traditionellen Freiheitsverständnis ans Mark gingen und die durchzustehen die Demokratie erst noch lernen müsse.
Tanners Fazit: Es führt nirgendwohin, zusammen mit rechten wie linken Verteidigern der Demokratie davon auszugehen, dass es bisher eine komplette Volkssouveränität gab, die nur durch Einflüsse von aussen einer Schrumpfung ausgesetzt ist. Vielmehr gelte es «gerade in umgekehrter Richtung über die systematischen Beschränkungen der Volkssouveränität im nationalstaatlichen Rahmen nachzudenken.» Der Historiker fordert, die Transnationalität der Demokratie zu stärken und auf neue Weise mit dem Konzept der politischen Souveränität zu verbinden. Dabei setzt er auf die Europäische Union. Sie sei «die wichtigste und erfolgreichste Neuerung seit dem Entstehen des demokratischen Wohlfahrtsstaates». Ihr sei es gelungen, die destruktiven Kräfte einer nationalstaatlichen Konstellation in intergouvernementale und vor allem suprastaatliche Kooperationen und Souveränitätsmodelle zu übersetzen. Eine Alternative zur Eindämmung der bedrohlichen Kriegsszenarien und Hegemonieansprüche in Europa sei nicht in Sicht.
In der Flüchtlingspolitik, bei der europäischen Einheitswährung, der Friedenssicherung, der Sozial- und Umweltpolitik, der Banken- und Arbeitsmarktregulierung könne die Lösung nicht beim Volkssouverän des Nationalstaats gefunden werden. Nötig sei aber mehr als die blosse Fortschreibung der heutigen EU: «Was durchaus riskant gesucht werden muss, ist eine neue Konzeption eines Mehrebenensystems, in dem sich verschiedene demokratische Praktiken verschränken und das zugleich mit globalen Institutionen interagiert.» Das im Rahmen des NCCR Democracy entwickelte Konzept der Demoi-cracy biete in dieser Hinsicht interessante Ansätze.
Die Schweiz leiste sich heute einen Mythos der Volkssouveränität, der sie ziemlich viel an operativer Souveränität koste, schloss Tanner: «Die beschönigende Rede vom autonomen Nachvollzug kann ja nur schlecht verstecken, dass es sich faktisch um eine automatische Adaption des Acquis communautaire der EU handelt. Da, wo die Schweiz etwas zu bieten hätte, nämlich in Sachen Bürgernähe und Subsidiarität, die ja im Maastricht-Vertrag wörtlich als wichtige Ziele der EU erwähnt werden, nimmt sie ihre Chance nicht wahr. So viel Potenzial zu verschenken, das kann sich auch dieses Land auf die Dauer gar nicht leisten.»