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Herr N. stirbt. In Wachträumen begegnen ihm Freunde aus längst vergangenen Zeiten, die alle bereits verstorben sind. Sie treten an sein Bett, sind mal mehr, mal weniger deutlich zu sehen. Franz, der Klassenkamerad, erscheint als der Jungspund von einst, Herbert dagegen, ein guter Kollege, als alter Mann. Sie winken und rufen: «Komm zu uns!» N. ist nicht verängstigt, die Freunde sind vertraut.
Später erzählt N. seiner Tochter von dem Besuch der alten Bekannten. Sie hört gut zu und muss lachen, als N. eine Anekdote von Franz erzählt. Am nächsten Tag bittet N. seine Tochter, Franz und Herbert hinauszuschicken und die Tür zu schliessen. Noch wolle er nicht mitgehen. Die Tochter steht auf und schliesst mit Schwung die Tür. «Sie sind fort», sagt sie.
Was hier am Sterbebett passiert, ist nicht ungewöhnlich, und wie selbstverständlich geht die Tochter von N. damit um. Doch die Tendenz geht in eine andere Richtung: Schnell einmal wird das imaginative Erleben Sterbender, das sich in Sterbeträumen, Sterbebettvision oder Nahtoderfahrungen äussert, pathologisiert und als Halluzination diagnostiziert.
Die letzten Bilder und Erzählungen der Sterbenden seien nicht halluzinogen, im Gegenteil, sie könnten zur Selbstdeutung sowie zur Verarbeitung des Kontrollverlusts beim Sterben beitragen, so die These eines Nationalfondsprojekts «Hermeneutik des Vertrauens am Lebensende – Imaginatives Erleben und symbolische Kommunikation in Todesnähe». Die Forschenden wollen im Rahmen des Nationalen Forschungsprojekts (NFP 67) neues Wissen zur letzten Lebensphase erarbeiten will (siehe auch Kasten).
Sie hätten zwei Ziele, sagt Simon Peng-Keller, Privatdozent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der UZH und Mitglied des Forschungsteams. Man wolle zum einen das Spektrum der Darstellungs- und Ausdrucksformen des imaginativen oder bildhaften Erlebens in Todesnähe erforschen. Zum anderen soll der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn an Seelsorger, Pflegende und Angehörige weitergegeben werden. «Es gehört zu den anspruchsvollen Aufgaben von Seelsorge und Spiritual Care, auf die symbolisch verdichteten Äusserungen von Menschen am Lebensende einzugehen und angemessen zu reagieren», sagt Peng-Keller.
Imaginatives Erleben in Todesnähe wurde im Lauf der Geschichte häufig beschrieben. Man denke nur an den Traum des Sokrates wenige Tage vor seiner Hinrichtung durch Einnahme des Schierlingsbechers. Sein Freund Kriton besuchte ihn, um ihm Geld und die Flucht nach Thessalien anzubieten. Sokrates ging auf das Angebot nicht ein und erzählte ihm stattdessen einen Traum. «Mir erscheint eine schöne wohlgestalte Frau in einem weissen Gewande , sie tritt auf mich zu und sagt: Sokrates , wahrlich, am dritten Tage gelangst du zum fruchtbaren Phthia (Gegend in Thessalien, Anmerk. d. Red.).»
Sterbebettvisionen sind individuell und doch lassen sich wiederholende Motive ausmachen, dazu gehört zum Beispiel die Begegnung mit verstorbenen Angehörigen – oft der Mutter – oder Freunden. Oder es kommt ein Bote des Todes, ein Engel oder ein anderes Wesen. Häufig ist es auch ein Gefährt, eine Fähre, ein Schiff oder ein Auto, das auftaucht, um den Sterbenden mit sich zu nehmen. Darunter sind zum Teil auch heiter anmutende Visionen: So sieht ein Sterbender einen alten Deux Chevaux vor sich – bereit für die Überfahrt.
Die UZH-Forschenden stützen sich auf empirische Daten, die bereits erhoben wurden, so zum Beispiel von englischen Forschern, die die Visionen Sterbender aufgezeichnet haben. Aber auch Schweizer Daten werden jetzt gesammelt. Etwa 50 Seelsorger, die mit Sterbenden zu tun haben, beschreiben in einem Fragebogen, was ihnen die Sterbenden erzählen. «Diese Daten werden von uns ausgewertet», sagt Peng-Keller, «aber die Daten spielen keine Hauptrolle in unserer Arbeit, weil wir keine empirische, sondern eine hermeneutische Studie angelegt haben. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Deutung der Sterbephänomene», sagt Peng-Keller.
Die Deutung kann jedoch da an ihre Grenzen stossen, wo die Ursachen der Todeserlebnisse neurophysiologischer Natur sind. So werden Nahtoderlebnisse oft als wunderbarer Gang durch einen Tunnel beschrieben, an dessen Ende ein helles Licht leuchtet. Das Tunnelerlebnis könnte auch auf eine Unterversorgung der Netzhaut mit Sauerstoff zurückzuführen sein. Peng-Keller relativiert: Das Tunnelbild sei nur eines von vielen Bildern, die Menschen mit einer Nahtoderfahrung beschreiben.
An einer Tagung, die kürzlich an der UZH zum Thema imaginatives Erleben in Todesnähe stattgefunden hat, erklärte der deutsche Soziologe Hubert Knoblauch, es sei falsch anzunehmen, dass Nahtoderlebnisse immer gleich seien und dieses Erleben auf rein physiologische Ursachen zurückzuführen sei. Er belegte seine Aussage mit einer Untersuchung aus den 1990er-Jahren in Deutschland. Dabei wurden Ost- und Westdeutsche nach ihren Nahtoderlebnissen befragt, und ein beträchtlicher Unterschied tat sich auf: 60 Prozent der West-, aber nur 40 Prozent der Ostdeutschen sprachen von einem «wunderbaren Gefühl» in Todesnähe. Ein «schreckliches Gefühl» hatten umgekehrt bloss 29 Prozent der West-, jedoch sage und schreibe 60 Prozent der Ostdeutschen. Dies zeige, so Knoblauch, dass die Nahtoderfahrung abhängig von der Kultur sei, in der man lebe.
Das Nationalfondsprojekt zum imaginativen Erleben in Todesnähe, das auf drei Jahre hin angelegt ist, möchte ein vertieftes Verständnis von vertrauensbasierten Bewältigungsstrategien in Todesnähe und der Symbolsprache des Sterbeerlebnisses erarbeiten.