Navigation auf uzh.ch
Soll ich, oder soll ich nicht? Diese Frage stellten sich die Kinder im «Stanford Marshmallow Experiment», das der amerikanische Psychologe Walter Mischel Ende der 1960er-Jahre durchführte. Die Kinder wurden mit einem Marshmallow allein gelassen und konnten entscheiden, ob sie diesen essen oder nicht. Wenn sie warteten, bis der Tester zurückkam, erhielten sie eine Belohnung in Form einer weiteren Süssigkeit. Wie Nachfolgestudien zeigten, waren jene Kinder, die die Geduld aufbrachten zu warten, in ihrem späteren Leben gesünder, glücklicher und erfolgreicher.
Geduld zu haben, zahlt sich also aus. Und Geduld ist ein kultureller Wert, der den Kindern von den Eltern vermittelt wird. Davon geht Volkswirtschaftsprofessor Fabrizio Zillibotti aus, der sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. Was hat Ökonomie mit Geduld zu tun? «Für uns ist sie eine zentral Eigenschaft, die ein Unternehmer braucht», erklärt Zilibotti. «Geduld setzt den Glauben voraus, dass in der Zukunft etwas Gutes passiert und wir dies beeinflussen können.» Genau diese Überzeugung brauche ein Unternehmer, der bereit ist, heute grosse persönliche und finanzielle Investitionen zu tätigen und Risiken auf sich zu nehmen, die sich vielleicht irgendwann in der Zukunft auszahlen könnten.
Dieser Unternehmergeist ist ganz entscheidend für das Florieren der Wirtschaft: «Unternehmer bringen die Wirtschaft voran, weil sie innovativ sind», sagt Zilibotti und stellt die Gleichung auf: Je mehr Unternehmer es gibt, desto erfolgreicher ist eine Volkswirtschaft.
Zu verstehen, wie Unternehmergeist entsteht und wie er weitergegeben wird, ist ein Schlüssel zum Verständnis der wirtschaftlichen Entwicklung. Das Gleiche gilt für das gesellschaftliche Umfeld, das unternehmerisches Handeln positiv oder negativ beeinflusst. Zilibotti hat deshalb zusammen mit seinem Kollegen Matthias Doepke von der Northwestern University (USA) die Zusammenhänge von Kultur, Unternehmertum und Wirtschaftswachstum untersucht.
Zilibotti und Doepke stehen mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit in einer Traditionslinie mit Max Weber und seinem «Geist des Kapitalismus», aber auch mit Adam Smith und Karl Marx. Und sie widersprechen der heute vorherrschenden neoklassischen Theorie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Diese postuliert, die Wirtschaftswissenschaft sollte vor allem erforschen, wie individuelle Entscheidungen gefällt und Ressourcen effizient zugeteilt werden. Die neoklassische Theorie betrachtet persönliche und gesellschaftliche Präferenzen als gegeben und ökonomisch nicht relevant. «Deshalb beschäftigten sich die Ökonomen bis vor kurzem auch nicht mit der Entstehung von Präferenzen oder kulturellen Einflüssen», sagt Fabrizio Zilibotti.
Das ändert sich jetzt. Zilibotti und Doepke brechen mit ihrem Aufsatz «Culture, Entrepreneurship and Growth» eine Lanze für eine kulturelle Interpretation wirtschaftlicher Entwicklungen. Sie greifen dabei auf historische Beispiele zurück und schlagen die Brücke zur Gegenwart. Der Protestantismus spielt dabei (wie bei Max Weber) eine wichtige Rolle. Einerseits wegen der calvinistischen Prädestination, der Annahme, Gott habe einen Teil der Menschen auserwählt und die anderen verdammt. Den Auserwählten zeigt sich die Gunst Gottes bereits im Diesseits, indem sie erfolgreich durchs Leben gehen.
Der andere Aspekt ist Martin Luthers «sola scriptura» – seine Überzeugung, dass die Bibel Gottes Heilsbotschaft verkündet und es keiner Vermittlung durch die Kirche bedarf. Den Gläubigen selbst erschliesst sich durch die Lektüre der Heiligen Schrift das Wort Gottes. Doch dazu muss man lesen können. Deshalb war die Alphabetisierung in den protestantischen Ländern höher als in den katholischen. «Das war ein wirtschaftlicher Vorteil», sagt Zilibotti. Eine vergleichbare theologische Reform hatte bereits im zweiten Jahrhundert vor Christus jüdische Bauern veranlasst, lesen zu lernen, was ihnen den Weg in andere, lukrativere Berufe öffnete.
Wer hat die industrielle Revolution vorangetrieben? Bürger, die es gewohnt waren, hart zu arbeiten und geduldig zu sein. Eine Kultur, die in der vorindustriellen Zeit etwa den Handwerkern vermittelt wurde, die zuerst als Lehrlinge und dann auf Wanderschaft hartes Brot assen und vieles entbehren mussten, bevor sie als Meister mit eigener Werkstatt die Früchte ihrer Anstrengungen ernten konnten. Die Adeligen hingegen lebten als Rentiers von ererbtem Vermögen und verachteten die Arbeit. Sie mussten nie lernen, geduldig zu sein und Opfer zu bringen. Deshalb verpassten sie die industrielle Revolu-tion. «Dabei hätten die Adeligen das Geld gehabt, um Fabriken zu bauen», sagt Zilibotti und fügt hinzu: «Jene, die finanziell ruiniert waren, versuchten sich dann doch als Unternehmer.»
Heute sei es für die Eltern schwieriger als vor zweihundert Jahren, die Werte und Fähigkeiten, die es für ein erfolgreiches (Geschäfts-)Leben braucht, direkt an ihre Kinder weiterzugeben, betont Zilibotti, «Schule und Ausbildung spielen eine viel grössere Rolle.» Trotzdem sind kulturelle Präferenzen immer noch entscheidend für das Fortkommen des Einzelnen wie der Volkswirtschaft. Zilibotti erklärt beispielsweise den zu Beginn harzigen ökonomischen Wandel in Osteuropa nach dem Kollaps des Kommunismus damit, dass die kommunistischen Regime das private Unternehmertum unterdrückt hatten und sich die Einstellung der Menschen nicht so rasch änderte. Viele verpassten damit die wohl einmalige Gelegenheit, selbst Unternehmer zu werden.
Die Chinesen hingegen sind trotz kommunistischer Hirnwäsche heute enthusiastische Entrepreneure. Zilibotti schliesst daraus: «Offenbar gibt es in China gesellschaftliche Werte, die den Kommunismus überlebt haben.» Wie der World Value Survey (weltweite Werteumfrage) belegt, glauben die Chinesen mehr als alle anderen daran, dass Erfolg in erster Linie vom eigenen Einsatz abhängt und nicht vom Schicksal oder Glück. Deshalb haben sie auch als Unternehmer mehr Biss als Menschen in anderen Kulturen, die weniger überzeugt sind, ihres Glückes eigener Schmied zu sein. «In China gibt es viele Geschichten von Menschen, die den Aufstieg von ganz unten schafften», sagt Zilibotti.
Seit längerem verfolgt der Ökonom die Karriere von Robin Li, dem Gründer von Baidu, einer der wichtigsten Suchmaschinen weltweit. «Li kommt aus einer einfachen Familie und verdankt seinen Erfolg seinen persönlichen Fähigkeiten und dem meritokratischen Selektionssystem Chinas», erklärt Zilibotti. Dank seiner ausgezeichneten schulischen Leistungen konnte Li zuerst an der Peking University Informationsmanagement studieren und dann in den USA Computerwissenschaften. Dort sammelte er auch praktische Erfahrungen, bevor er nach China zurückkehrte und ein erfolgreicher Unternehmer wurde. Heute ist Robin Li der reichste Mann Chinas und verkörpert den «chinesischen Traum».
Robin Li und das chinesische Wirtschaftswunder sind ein positives Beispiel dafür, wie Unternehmertum eine Gesellschaft voranbringen kann. Doch es kann auch in die andere Richtung gehen, wie Spanien und Italien zeigen. «Die Wirtschaftskrise hat die Art und Weise verändert, wie junge Menschen die Welt und ihre Zukunft sehen», sagt Zilibotti. Während jene Generation Italiener, die vor und während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, nach dem Krieg voller Optimismus und Tatendrang etwas Neues aufbauen wollte und bereit war, dafür hart zu arbeiten, haben heute in Italien viele junge Menschen kaum Zukunftsperspektiven und sind abhängig von ihren Eltern. «Da hilft nicht einmal Geduld», bedauert Zilibotti, der selbst aus Italien stammt. Selbst ein erfolgreiches Studium ist kein Garant für eine gute Stelle. Viel wichtiger ist, die richtigen Beziehungen zu haben. Das zerstört die Motivation. Das Beispiel Italien zeige, dass Präferenzen nicht einfach da seien, sagt Zilibotti: «Sie werden geformt und sind veränderbar. Das Problem in Italien ist, dass jetzt eine neue Generation mit diesen negativen Werten heranwächst. Wenn sie diese an ihre Kinder weitergibt, ist das Land in einem Teufelskreis gefangen.»
Und die Schweiz? Zilibotti attestiert ihr eine dynamische Gesellschaft mit einer hohen Akzeptanz des Unternehmertums. Diese könnte allerdings durch die wachsende Ungleichheit in Frage gestellt werden. Zudem sollte hierzulande mehr getan werden, um junge Unternehmen zu fördern, etwa indem bürokratische Hindernisse abgebaut werden und die finanzielle Unterstützung für Jungunternehmer verbessert wird. Doch Unternehmer zu werden, könne man nach wie vor nicht lernen, ist Zilibotti überzeugt. «Selbst wenn man Ökonomie studiert, wird einem zu wenig vermittelt, wie man das anpacken muss.» Deshalb spielt die Familie nach wie vor eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, unternehmerisches Wissen und Werte an die nächste Generation weiterzugeben.