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Herr Jenni, Anlass Ihrer Tagung sind die Zürcher Longitudinalstudien über die kindliche Entwicklung, die genau vor 60 Jahren starteten. Diese Studien sind mit über 800 Kindern sehr umfassend. Seit 2005 sind Sie deren Leiter. Welche Forschungsresultate überraschen Sie am meisten?
Oskar Jenni: Einerseits die grosse Variabilität zwischen den Kindern, beispielsweise im Wachstum, in der Sprachentwicklung oder der Bewegungsaktivität. Andererseits aber auch die vielen überraschenden Entwicklungsverläufe. Ich bin dabei zur Einsicht gelangt, dass man die langfristige Entwicklung eines Kindes nie genau voraussagen kann.
Ein aktueller Schwerpunkt Ihrer Forschungsfragen gilt dem unreifen Kind. Was muss man sich darunter vorstellen?
Reifung bedeutet, dass Entwicklungsparameter eines Kindes quantitativ zunehmen, beispielsweise Körpergrösse, Muskelkraft oder Wortschatz, und sich aber auch qualitativ verändern – zum Beispiel das Denken. Reifungsprozesse laufen beim einzelnen Kind unterschiedlich schnell ab. Es gibt Kinder mit beschleunigter und solche mit verzögerter Entwicklung.
Im klinischen Alltag stellt sich dann für uns die Frage, ob ein Kind mit einer Entwicklungsverzögerung eher eine Unreife zeigt, die sich auswächst, oder unter einer Störung leidet, die fortdauert. Es gibt Entwicklungsbereiche, bei denen man recht zuverlässig voraussagen kann, ob es sich um Unreife oder Störung handelt. Beim Körperwachstum beispielsweise kann die Reife anhand des Knochenalters festgelegt werden und die Störung durch Untersuchung der Wachstumshormone bestimmt werden.
Auch in der Sprachentwicklung gibt es in den ersten Lebensjahren gewisse Hinweise für die Unterscheidung Unreife versus Störung. Wenn ein Kind im Alter von zwei Jahren erst wenige Worte spricht, aber aus einem bildungsnahen Milieu stammt und ein gutes Sprachverständnis hat, dann liegt eher eine sprachliche Unreife vor. Wenn das Kind nach dem zweiten Lebensjahr keinen Wortschatzspurt zeigt, ist eine Störung wahrscheinlich.
In welchen Entwicklungsbereichen ist diese Unterscheidung schwierig?
Zum Beispiel bei der kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung. Wir sehen in unserer Poliklinik oft Kindergarten- und Schulkinder mit Verhaltensweisen, die einem jüngeren Kind entsprechen. Das Kind ist noch nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit längere Zeit aufrechtzuerhalten, es ist motorisch aktiv und kann nicht warten, bis es an der Reihe ist. Ein solches Verhalten ist bei einem Kleinkind normal. Bei einem Schulkind ist dieses Verhalten entweder unreif oder gar gestört, wenn es in hohem Ausmass auftritt. Man spricht dann von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Eine sichere Unterscheidung zwischen Unreife und Störung ist oft erst im längeren Verlauf möglich. Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass 30 bis 50 Prozent der ADHS-Kinder später keine Beeinträchtigungen mehr zeigen, ADHS sich also bei diesen Kindern auswächst. Leider gibt es bis heute keine zuverlässigen Methoden, um zu unterscheiden, bei welchem Kind sich ein auffälliges Verhalten auswächst und bei welchem nicht.
Was schliessen Sie daraus?
Weil es schwierig ist, die kindliche Entwicklung vorauszusagen, plädiere ich für einen zurückhaltenden Umgang mit Verhaltensdiagnosen. Viel wichtiger sind angemessene pädagogische und therapeutische Unterstützungsmassnahmen und eine Anpassung der Erwartungen des Umfeldes an das Kind, unabhängig von der Diagnose.
Ein weiteres Thema an der Tagung sind die Frühgeborenen. Dank der modernen Medizin wachsen immer mehr Frühgeborene auf. Viele dieser Kinder haben mit Schulschwierigkeiten zu kämpfen. Nimmt diese Problematik zu?
Die Sterblichkeit hat bei Frühgeborenen deutlich abgenommen, während milde Entwicklungsauffälligkeiten vermehrt auftreten. Schulische Probleme bei Frühgeborenen sind darum ein häufiger Zuweisungsgrund auf unsere entwicklungspädiatrische Poliklinik. Meine Kollegin Bea Latal, Privatdozentin für Pädiatrie, die sich seit vielen Jahren um die Nachkontrolle der Frühgeborenen kümmert, berichtet an der Tagung über deren spezifische Lernprobleme. Es ist leider so, dass in der heutigen Leistungsgesellschaft mit überhöhten Erwartungen an das Kind bereits milde Entwicklungsauffälligkeiten einen grossen Leidensdruck auslösen können.
Was bedeutet diese Entwicklung aus Ihrer Sicht?
Wir müssen akzeptieren, dass Menschen sehr unterschiedlich sind, und jeder von uns unterschiedliche Begabungen und Schwächen hat. Die Variabilität der Menschen macht aus evolutionsbiologischer Sicht auch Sinn: Je diversifizierter eine Gesellschaft, desto flexibler ist sie, wenn sich die Bedingungen der Umwelt plötzlich verändern. Die menschliche Variabilität bedeutet Sicherheit für das langfristige Überleben. Es gilt also, die gesellschaftlichen Leistungsanforderungen an die Variabilität anzupassen.
Blicken wir noch nach vorne: Wohin geht die Reise der Forschung in der Entwicklungspädiatrie?
Wir haben im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit den Universitäten Fribourg, Lausanne und Zürich die «Swiss Preschooler's Health Study» lanciert. In diesem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt geht es um den Einfluss von Stress, Bewegungsaktivität und Ernährung auf die körperliche und psychische Gesundheit von Krippenkindern. Ein weiterer Schwerpunkt wird auch in Zukunft die Nachsorge von Kindern mit hohen Entwicklungsrisiken sein, zum Beispiel Frühgeborene oder Kinder mit angeborenen Herzfehlern. Nachuntersuchungen in Bezug auf Entwicklung und Lebensqualität dieser Kinder sind eine ethische Verpflichtung für die hochspezialisierte Medizin.