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Stadtentwicklung in Zürich

Wenn Liebgewonnenes verschwindet

Die dynamische Entwicklung Zürichs ist Thema einer Ringvorlesung mit dem Titel «Wachstumsschmerzen». Sie wurde letzte Woche von Stadtpräsidentin Corine Mauch und UZH-Rektor Andreas Fischer eröffnet. Stadtsoziologe Rolf Lindner aus Berlin regte dazu an, den Blick für die Individualität der Städte zu schärfen.
David Werner
Zürich ist attraktiv und prosperiert: Die Folgen des Booms sind Thema der Veranstaltungsreihe «Wachstumsschmerzen», die in diesem Semester an verschiedenen Lokalitäten der Stadt über die Bühne geht. (Bild: wikipedia)

Zürich wächst. Die Metropole zieht Menschen von überall her an. Viel wird gebaut, Quartiere verändern ihr Gesicht. Das löst mitunter auch Unbehagen aus: Wohnraum wird knapp und knapper, Liebgewonnenes wird verdrängt, Vertrautes verschwindet. Manche haben das Gefühl, die Stadt werde anonymer und gleiche sich dem globalen Einerlei an.

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Wachstumsschmerzen» werden im laufenden Semester Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen mit Vertretern der Stadt aktuelle Problemstellungen der Stadtentwicklung diskutieren.

Wies auf Parallelen zwischen Stadt und Universität hin: Rektor Andreas Fischer (Bild: Fabian Henzmann)

Die Ringvorlesung wurde von der UZH und dem Amt für Stadtentwicklung gemeinsam organisiert. Rektor Andreas Fischer bezeichnete in seinem Grusswort die Ringvorlesung als ein gelungenes Beispiel dafür, wie die Universität ihren Anspruch wahrnehme, sich am Diskurs über relevante gesellschaftliche Fragen zu beteiligen.

Zudem wies er auf Parallelen zwischen Stadt und Universität Zürich hin: Stadt wie Universität hätten mit den Folgen ihrer Attraktivität zu kämpfen. «Beide leiden in räumlicher Hinsicht unter Wachstumsschmerzen.»

Die grossartigste Erfindung der Menschheit

Stadtpräsidentin Corine Mauch charakterisierte Zürich in ihrer Eröffnungsrede als «international bedeutende, eher kleine westeuropäischen Stadt in der Phase der Reurbanisierung». Bauliche Dynamik und Bevölkerungswachstum hätten zu einem anhaltenden Diskurs über Zuwanderung und soziale Überschichtung, über Verdrängungsmechanismen, Entmischungstendenzen und Dichtestress geführt.

Mauch plädierte für Offenheit gegenüber dem Wandel der Stadt: «Die Erhaltung des Status quo ist keine legitime Position für uns, wir müssen bereit sein, Veränderungen als Normalität anzunehmen.» Städte seien die grossartigste Erfindung der Menschheit, zitierte Mauch den Harvard-Ökonom Edward Glaser. Ihre Innovationsfähigkeit resultiere aus dem Zusammenleben von vielen verschiedenen Gruppen auf engem Raum.

Ermunterte dazu, Veränderungen der Stadt positiv zu sehen: Stadtpräsidentin Corine Mauch. (Bild: Fabian Henzmann)

Offenheit, Austausch und Reibung seien Merkmale lebendiger Städte, so Mauch. Den Verdrängungs- Entmischungs- und Verschliessungstendenzen, welche durch die herrschende «Hochdrucklage» in Zürich begünstigt werde, müsse man jedoch wach und offen begegnen. Wichtig sei daher eine wirkungsvolle, finanziell gut abgesicherte kommunale Wohnpolitik.

Die Individualität von Städten wahrnehmen

Städteforscher Rolf Lindner aus Berlin empfahl in seinem Referat, der Dynamik von Veränderungsprozessen gelassen zu begegnen. Städte, so Lindner, hätten eine ausgeprägte Individualität. Zwar seien sie in ständigem Wandel begriffen, sie hätten aber einen Charakterkern, der viel stabiler sei, als oft angenommen werde. Man müsse nur den Blick schulen, um ihn wahrzunehmen.

«Eine Stadt ist viel mehr als ein neutraler Behälter, sie ist ein kulturell codierter Raum voller Geschichte und Geschichten», sagt Stadtsoziologe Rolf Lindner von der Berliner Humboldt-Universität. (Bild: Fabian Henzmann)

Mit seiner eigenen Forschungsdisziplin ging Lindner hart ins Gericht. Die Stadtsoziologie habe sich viel zu lange und zu einseitig mit Planungs- und Steuerungsproblemen befasst. Sie hätte versucht, verallgemeinerbare Entwicklungsgesetze der Stadtentwicklung zu erkennen. Auf der Strecke geblieben sei dabei das Verständnis für die Stadt als Lebensform. «Eine Stadt ist viel mehr als ein neutraler Behälter, sie ist ein kulturell codierter Raum voller Geschichte und Geschichten», sagte er.

Nicht nur die Struktur der Verkehrsnetze und der Stil der Gebäudefassaden präge eine Stadt, sondern auch das implizite Wissen und die stillschweigende Übereinkunft der Bewohnerinnen und Bewohner darüber, was es bedeute, Bürger einer bestimmten Stadt zu sein: Stereotypen und Narrative, Gewohnheiten und Traditionen formten überall einen bestimmten Habitus, eine «generative Tiefengrammatik», welche die Individualität der Stadtkultur ausmache.

Wer das Sensorium für diese unterschwelligen Beharrungskräfte schärfe, dem falle es leichter, Entwicklungsdynamiken zu akzeptieren, so die Quintessenz von Lindners Vortrag.