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Wie rechtfertigt sich Kunst angesichts der Tatsache, dass es Schrecken, Leid und Elend gibt? «Ist, dass du schaffst und bildest, genug? Bist nicht nur eigen Nutzens voll?», fragt sich Mathis der Maler, Hauptfigur der gleichnamigen Hindemith-Oper. Er wusste seine selbstvergessene Kunstproduktion in den Wirren des Bauernkrieges nicht mehr zu erklären.
Hindemith selbst sah sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit derselben Frage konfrontiert. Er weilte in Aarau bei der Familie Weber, die ihn mäzenatisch förderte, während sich sein 45jähriger Vater freiwillig zum Dienst meldete. «Wenn ich von Beginn des Krieges hier gewesen wäre, stünde ich schon längst in Frankreich, so habe ich aber anstatt der deutschen Begeisterung die schweizerische Aufregung mitgemacht und dadurch versäumt, mich dem Vaterland zu stellen», schrieb Hindemith 1914 in einem Brief.
Hindemiths anfängliche Kriegsbegeisterung und sein blindes Vertrauen in die deutsche Propaganda fanden jedoch ein jähes Ende mit dem Fall seiner Vetter und seines Vaters an der Front. Im Dritten Reich wurde der deutsche Komponist dann selbst zum Feind des Regimes erklärt und seine Musik als entartete Kunst bewertet. Die Versuche seines Verlags, die Oper Mathis der Maler in Berlin, Frankfurt oder Wien uraufzuführen, waren damit zum Scheitern verurteilt. Die Premiere fand schliesslich 1938 am Zürcher Stadttheater statt.
Welchen Stellenwert Zürich für Hindemiths Schaffen hatte, war am vergangenen Mittwoch auch Thema des Vorlesungs- und Konzertabends zu Ehren des 50. Todestages von Paul Hindemith. Laurenz Lütteken, Ordinarius für Musikwissenschaft an der UZH, warf in seiner Begrüssungsrede einen Blick in die Geschichte: Das 1929 errichtete Musikwissenschaftliche Seminar wurde lange Zeit ohne Lehrstuhl geführt. Es waren der Anglist und Dekan Heinrich Straumann sowie der Germanist Emil Staiger, die sich ab den 1940er-Jahren dafür einsetzten, diese missliche Lage zu ändern.
Straumann verfasste im November 1949 ein Schreiben an Paul Hindemith, in dem er fragte, ob er sich vorstellen könne, einer Berufung nach Zürich zu folgen. Hindemith, der bereits etliche Anfragen und Angebote von europäischen Schulen und Musikinstituten hatte, beantworte das Schreiben mit einer Zusage. Er wurde damit ab 1951 zum ersten ordentlichen Professor des Musikwissenschaftlichen Instituts.
Die Lehrtätigkeit umfasste – auf Hindemiths eigenen Wunsch – nicht die gesamte Musikwissenschaft, sondern beschränkte sich auf die Fächer Musiktheorie, Komposition und Pädagogik. Wegen Arbeitsüberlastung gab Hindemith das Ordinariat 1956 wieder auf, blieb der Universität jedoch als Honorarprofessor weiterhin verbunden. Im Wintersemester 1957/58 legte er seine Lehrtätigkeit in Zürich ganz nieder.
In Erinnerung an seinen ersten Ordinarius veranstaltet das Musikwissenschaftliche Institut seit 2006 die Hindemith-Vorlesung. Sie bietet ein Podium für herausragende Vertreter ihres Faches, sich mit einem Thema ihrer Wahl an ein breiteres Publikum zu wenden.
Anlässlich des 50. Todestages von Hindemith fand die Veranstaltung zum ersten Mal in der Aula der Universität Zürich statt – an jenem Ort, wo Hindemith seine Antrittsvorlesung hielt und auf deren Empore er die Orgel spielte. Lütteken bemerkte mit einem Augenzwinkern: «Wir hoffen, dass das seit etlichen Jahren unspielbare Instrument, dereinst wieder restauriert und im neuen Glanz erstrahlen wird.»
Bevor Lütteken das Wort an den ersten Gastredner übergab, präsentierte er ein Gemälde mit dem Portrait Hindemiths, das 1952 in Berlin entstand und sich heute im Besitz des Instituts befindet. Lütteken platzierte das Bild auf einem Stuhl neben der Rednertribüne und es hatte den Anschein, als lausche Hindemith den ganzen Abend seiner kritischen Würdigung mit konzentriertem Gesichtsausdruck und strengem Blick.
Joachim Kreutzer, emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Regensburg und Spezialist für die Beziehungen zwischen Literatur und Musik, hatte im Wintersemester 1957/58 bei Hindemith studiert und schilderte in seiner Rede seine Erinnerungen an jene Zeit in Zürich.
Es war für ihn die letzte Chance, Paul Hindemith noch als akademischen Lehrer zu erleben. Kreutzer konnte dies damals jedoch noch nicht wissen. Vielmehr ging er nach Zürich, weil er wusste, dass Emil Staiger hier lehrte – einer der Wegbereiter für Hindemiths Berufung an die UZH.
Hindemith befasste sich in seiner letzten Vorlesung mit Arnold Schönbergs Streichquartetten und damit im Besonderen mit dem kompositorischen Verfahren der Zwölftonmusik. Zwischen und nach seinen Analysen ging Hindemith jeweils an den Flügel und improvisierte Eigenes.
Gemäss Kreutzer kommentierte er sein Spiel immer wieder mit den gleichen Sätzen: «Klingt es nicht genauso? Meine Damen und Herren, Sie hören es selbst! Ich kann Musik machen, die sich klanglich genauso anhört wie Zwölftonmusik, ohne dass sie dodekaphonisch konstruiert wäre.» «Offen gestanden», so Kreutzer, «klang es nicht wie Hindemith, aber nach Schönberg erst recht nicht, es fehlte alleine schon der Reichtum an Bewegungselementen.»
Der Pianistin Anne Hinrichsen kam die Ehre zu, als erste den neuen Steinway-Flügel der Aula zu bespielen – zwei Tage vor der offiziellen öffentlichen Einweihung des Instruments. Beim Stück, das Anne Hinrichsen und der Flötist Peter Eberl virtuos zum Besten gaben, handelte es sich um Hindemiths technisch anspruchsvolle Sonate für Flöte und Klavier, die er 1936 in der türkischen Emigration geschrieben hatte. Mit der Sonate hat es zudem folgende Bewandtnis auf sich: Hindemiths Witwe Gertrud vermachte seinerzeit das Autograph der Sonate dem Musikwissenschaftlichen Institut.
Professor Giselher Schubert, langjähriger Leiter des Hindemith-Instituts in Frankfurt am Main und Editionsleiter der kritischen Hindemith-Gesamtausgabe, schloss den Abend mit der eigentlichen Hindemith-Vorlesung. Anhand historischer Anekdoten und mit Hilfe von CD-Einspielungen rekonstruierte er die Entwicklung von Hindemiths musikalischer Poetik, welche ihren prägenden Ausgangspunkt im Ersten Weltkrieg fand und in seinen späteren Werken nachwirkte.
Schubert beendete seine Ausführungen mit dem sechsten Bild aus der Oper Mathis der Maler. Der Protagonist und Künstler Mathis erkennt in dieser Szene die Aufgabe und den Sinn seiner Kunst wieder, als er der Bauerntochter Regina, welche über den Tod ihres Vaters tief betrübt ist, ein Volkslied über musizierende Engel vorsingt. Regina findet dabei Trost und schläft ein.
Schubert sieht folgenden Sinn in dieser Gestaltung: «Die Kunst muss etwas aus der Sphäre des Kindlichen, Naiven, Schlichten und Einfachen bewahren, wenn sie die Menschen erreichen will. Kunst kann den Schrecken, das Leid und Elend nicht aus der Welt schaffen, aber sie vermag, wenn sie sich mit den Menschen solidarisiert, eine moralische Kraft zu vermitteln, die hilft, stand zu halten, sich nicht bezwingen zu lassen und zu widerstehen.»