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Herr Zollikofer, worin liegt die Bedeutung des Frühmenschen-Schädels, den Sie in der heute erschienenen Ausgabe des Wissenschaftsjournals «Science» beschreiben?
Christoph Zollikofer: Zunächst ist es ganz einfach der weltweit erste Schädel eines Homo erectus, der komplett erhalten ist. Man hat ja vorher gar nicht gewusst, wie das Gesicht des Homo erectus aussieht.
Was war es für ein Gefühl, als Sie dem Homo erectus das erste Mal ins Antlitz blickten?
Christoph Zollikofer: Es war unbeschreiblich. Ich dachte: Wow – jetzt erwische ich die Evolution einmal in vollem Gang. Zwei Jahrzehnte lang habe ich mir mit Hilfe von Schädelfragmenten ein Bild des Homo erectus zu machen versucht. Und plötzlich hatte ich einen vollständigen Schädel ganz unmittelbar vor mir.
Hätten Sie erwartet, einmal einen so gut erhaltenen Schädel eines Homo erectus in den Händen halten zu können?
Christoph Zollikofer: Niemals. Hier hat sich einer der ganz grossen Träume meines Fachs erfüllt. Vor rund hundert Jahren wurde erstmals ein Homo erectus beschrieben. Seither warteten Paläoanthropologen auf diesen Moment.
Wann und unter welchen Umständen wurde der Schädel entdeckt?
Christoph Zollikofer: Der Schädel wurde am 5. August 2005 auf dem Grabungsfeld im georgischen Dmanisi von einem einheimischen Archäologen in der alleruntersten Sedimentschicht gefunden. Wir führen dort seit vielen Jahren zusammen mit dem Georgischen Nationalmuseum in Tiflis Grabungen durch – immer im Sommer. Es ist der fünfte – und der erste komplett erhaltene – Schädel, den wir hier gefunden haben.
Marcia Ponce de León und ich waren zu diesem Zeitpunkt gerade in Georgien – wir hatten aber keine Zeit mehr, uns das Objekt sofort anzusehen, weil der Rückflug unmittelbar bevorstand. Es dauerte noch eine Woche, bis der ganze Schädel mithilfe von Pinseln und Zahnbohrern aus dem Gestein befreit war. Dann sah ich das erste Foto. Unglaublich! Im Oktober flogen wir dann wieder nach Georgien, um mit den ersten Untersuchungen zu beginnen.
Wie muss man sich das Grabungsfeld von Dmanisi vorstellen?
Christoph Zollikofer: Die Grabungsstelle liegt auf dem Gebiet einer ehemaligen mittelalterlichen Stadt. Wir graben buchstäblich im Kellergeschoss von Gebäuden aus dem Mittelalter. Zur Sowjet-Zeit waren an diesem Ort Mittelalter-Archäologen beschäftigt, und per Zufall entdeckte man hier später die Überreste eiszeitlicher Tiere. Salopp gesagt: Im Schweinestall fand man Waldelefanten – und schliesslich Überreste von Frühmenschen.
So ist es übrigens oft an Grabungsstellen: Zuerst kommen die Mittelalter-Archäologen, dann die Bronzezeit-Archäologen – und schliesslich wir Paläoanthropologen. Das geht schön der Zeitachse entlang rückwärts.
Haben Sie dem Schädel schon einen Namen gegeben?
Christoph Zollikofer: Nein, bis jetzt heisst er bloss «Schädel fünf».
Das Volumen des Hirnschädels ist dreimal kleiner als das des heutigen Menschen, der Kiefer ist dafür ausserordentlich massiv. Was für ein Wesen war dieser Homo erectus, der vor etwa 1.8 Millionen Jahren lebte?
Christoph Zollikofer: Er kannte Steinwerkzeuge, und er hatte Zugang zu fleischlicher Nahrung. Und wir haben Hinweise darauf, dass er in einem Umfeld lebte, das durch enge soziale Bande geprägt war. Das wissen wir unter anderem deshalb, weil einer der fünf Frühmenschen, von denen wir in Georgien Überreste geborgen haben, bereits ein zahnloser Greis war, als er starb. Er hätte ohne die Unterstützung anderer Gruppenmitglieder gar nicht überleben können.
Sie ziehen aus dem Schädelfund weitreichende Schlüsse. Welche?
Christoph Zollikofer: Wir können zeigen, dass die Artenvielfalt unter den Frühmenschen vor zwei Millionen Jahren kleiner war als erwartet. Damit ist die verbreitete Hypothese widerlegt, dass sich verschiedene Arten der Gattung Homo getrennt entwickelten. Dafür haben wir jetzt einen Beleg für die Gegen-Hypthose, die auch «Single-species»-Hypothese genannt wird: Der Homo erectus entwickelte sich vor rund zwei Millionen Jahren in Afrika, war sehr variabel und verbreitete sich von dort aus auf andere Kontinente – genauso wie später der Homo sapiens. Der Homo erectus war wie der Homo sapiens sehr anpassungsfähig und konnte die verschiedensten Ökosysteme besetzen.
Reicht ein einziger Schädelfund, um so weitgehende Schlüsse zu ziehen?
Christoph Zollikofer: Einer natürlich nicht. Aber das Einzigartige an der Fundstelle in Georgien ist ja, dass wir hier bereits vier weitere – wenn auch nicht so gut erhaltene – Schädel entdeckt haben. Wir konnten also fünf Individuen miteinander vergleichen. Dieser Vergleich ergab, dass die Variationsbreite zwischen den Individuen sehr gross ist – aber nicht grösser als die beim Menschen oder beim Schimpansen. Das lässt tatsächlich den Schluss zu, dass es vor zwei Millionen Jahren weltweit nur die Art Homo erectus gab, und nicht mehrere, wie viele Forschende bis heute glauben.
Vier Schädel aus dem Grabungsfeld von Dmanisi kannte man bereits – warum gibt erst dieser fünfte Gewissheit, dass es sich um eine einzige Art handelt?
Christoph Zollikofer: Der Schädel wirkt fast wie der eines Kompositwesens, er vereinigt die Extreme der bereits gefunden Schädel. Er beweist damit, dass die vier bisherigen Funde nicht zu verschiedenen Arten, sondern zu einer Art gehören. Er ist darüber hinaus ein Beleg für die Variabilität des Homo erectus.
Kann man denn ausschliessen, dass eines Tages doch noch andere Arten der Gattung Homo entdeckt werden, die zur selben Zeit wie der Homo erectus lebten?
Christoph Zollikofer: In Afrika wurden bis heute an verschiedenen Orten insgesamt Überreste von fast fünfzig einigermassen gut erhaltenen Individuen der Gattung Homo gefunden. Alles, was wir über sie wissen, spricht dagegen, dass es neben dem Homo erectus noch weitere Homo-Arten gab. Wir vertreten damit aber eine nach wie vor kontroverse Auffassung. Viele Forschende haben ihre Karrieren darauf aufgebaut, immer neue Arten zu postulieren. Wir sind wie das Kind im Märchen von «des Kaisers neue Kleider», das einfach auf die Tatsachen schaut. Und die Tatsachen sagen: Es ist bisher nur die eine Art Homo erectus bekannt.
Zusammen mit Marcia Ponce de León haben Sie an der UZH die computergestützte Paläoanthropologie erfunden. Das heisst, Sie können dank der Computertomografie mit kleinstmöglichen Eingriffen in die Fundstücke ein Maximum an Erkenntnissen gewinnen. Welche Rolle spielte Computertomografie bei der Untersuchung des «Schädels fünf»?
Christoph Zollikofer: Sie spielte auch diesmal eine wichtige Rolle. Noch bevor wir den Schädel vollständig vom Sedimentmaterial befreiten, schoben wir ihn im Oktober 2005 in den Computertomografen. Dank der Bilddaten wusste der Präparator genau, wie er bei der Feinarbeit am Schädel vorgehen muss, um nichts zu zerstören.Es folgten 2008 und 2010 weitere Computertomografien, die immer höhere Auflösungen brachten.
Seit 2005 arbeiten Sie also an der Erforschung des Schädels?
Christoph Zollikofer: Die eigentliche Forschungsarbeit ist nur die eine Seite unserer Arbeit im Dmanisi-Projekt, denn unser Anliegen ist nicht nur, den Fund zu beschreiben, sondern in Georgien eine Wissenschaftsstruktur aufzubauen. Glücklicherweise unterstützt uns der Schweizerische Nationalfonds sehr aktiv bei diesem Anliegen. Wir haben dadurch freie Hand, in Georgien etwas vollkommen Neues aufzubauen.
Wie ist es eigentlich zur Zusammenarbeit mit dem Georgischen Nationalmuseum in Tiflis gekommen?
Christoph Zollikofer: Der Direktor des Nationalmuseums, David Lordkipanidze, ist ein guter Freund von Marcia Ponce de León und mir. Die Freundschaft begann 1998, als er noch ein unbekannter junger Mann war. Dmanisi war damals ein für die Paläoanthropologie noch nicht so bedeutendes Grabungsfeld, man hatte dort erst einen Unterkiefer eines Homo erectus gefunden. Spasseshalber sagte David Lordkipanidze immer zu uns: «Wenn ich eines Tages einen Schädel finde, rufe ich euch an.» Und so kam es dann auch – seither insgesamt fünf Mal.
Sie haben es mit Ihren Erkenntnissen über den jüngsten Schädelfund auf die Titelseite der heute erscheinenden Ausgabe von «Science» geschafft. Haben Sie damit gerechnet, dass die Zeitschrift Ihren Forschungsergebnissen einen so hohen Stellenwert einräumen wird?
Christoph Zollikofer: Ich wusste vom ersten Moment an, dass unsere Entdeckung das Potenzial dazu hat.
Warum haben Sie so lange damit zugewartet, etwas über den spektakulären Schädelfund zu publizieren?
Christoph Zollikofer: Heute ist es üblich geworden, schon kurz nach der Entdeckung eines Fundes an die Öffentlichkeit zu gehen – mit der immergleichen Botschaft: «Es wurde wieder eine neue Frühmenschen-Art gefunden!» Wir wollten einen klaren Kontrapunkt setzen zu diesem Stil. Wir warteten, bis wir fundierte Erkenntnisse zu diesem Schädel gewonnen hatten. Dazu brauchte es Nerven und Geduld – wir mussten immerhin acht Jahre durchhalten. Dafür können wir jetzt mit Erkenntnissen an die Öffentlichkeit treten, die zu einem Perspektivenwechsel in der Wissenschaft führen werden.
Sie verfolgen seit vielen Jahren das Ziel, zu beweisen, dass der Homo erectus sich – wie später der Homo sapiens – in Afrika entwickelte und sich von dort aus weiter verbreitete. An diesem Ziel scheinen Sie nun angekommen zu sein. Welcher grossen Frage werden Sie sich zukünftig zuwenden?
Christoph Zollikofer: Es gibt jede Menge ungelöster Fragen, die mich brennend interessieren. Eine der ganz spannenden Fragen ist: Gab es eine oder gab es mehrere Out-of-Africa-Bewegungen des modernen Menschen? Die Knochenfunde von 120’000 Jahre alten Homo-sapiens-Skeletten in Israel könnten hier Aufschluss geben. Ausserdem würde ich gern wissen, ob es auch beim Neandertaler eine Out-of-Africa-Bewebung gab. Dies zu erforschen würde für mich eine Rückkehr zu meinen Anfängen als Paläoanthropologe bedeuten: Marcia Ponce de León und ich gehörten zu den ersten, die zeigten, dass der Neandertaler eine eigene Menschenart ist.