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Herr Hengartner, Sie haben das Programm der Ringvorlesung «Wachstumsschmerzen» wesentlich mitgestaltet. Welche Idee steckt hinter dieser Veranstaltung?
Hengartner: Wir wollen für einmal nicht die übliche stadtplanerische Perspektive bedienen. Statt zu fragen, wie man Städte am besten plant, wollen wir erkunden, wie sich die gebaute Stadt in den Köpfen der Menschen festschreibt.
Die Universität Zürich hat die Ringvorlesung gemeinsam mit der Stadt Zürich organisiert. Was waren Ihre Erfahrungen dabei?
Hengartner: Wir haben uns Zeit genommen, um uns auszutauschen und herauszufinden, was wir gemeinsam tun können, damit Stadtentwicklung, lebendig, greifbar – auch angreifbar – für die Stadtbevölkerung wird. Dabei hat sich ein intensiver Dialog ergeben, der fortdauern wird – auch über die Veranstaltung hinaus. Wir haben viel voneinander gelernt.
Was haben Sie gelernt?
Hengartner: Es war für mich interessant zu sehen, welche konkreten Probleme die Stadtentwickler beschäftigen. Sie müssen einer Zukunft gerecht werden, die sie nicht kennen. Ein Beispiel dafür ist der Schulhausbau: Stets muss man damit rechnen, dass sich zum Zeitpunkt der Fertigstellung eines Schulhauses die Bedürfnisse schon wieder verändert haben.
Was ist Ihr Rat an die Stadtentwickler?
Hengartner: Man sollte nicht den Anspruch haben, dass ein Bauwerk, das man heute plant, in hundert Jahren immer noch steht und in der vorgesehen Weise funktioniert. Es reicht, in einem Zeithorizont von zwanzig, dreissig Jahren zu denken und mehr Provisorien zu wagen. Provisorien beleben die Stadt.
Wir führen dieses Interview in einem der Stadtteile, in denen das Wachstum Zürichs am stärksten spürbar ist, in Neu-Oerlikon. Hier befindet sich das Institut für Populäre Kulturen, an dem Sie tätig sind. Ist Zürich Nord Ihrer Meinung nach ein gelungenes Beispiel für Re-Urbanisierung?
Hengartner: Neu-Oerlikon ist ein Stadtteil fast wie aus einem Guss. Die Planung war sehr ambitioniert, zu ambitioniert für mein Empfinden. Das Quartier hat zu wenig Orte, die dazu einladen, es sich zu eigen zu machen. Es fehlt an Nischen, an Rückzugsmöglichkeiten. Der Stadtraum wurde komplett versiegelt, undefinierte Ecken, die Eroberungs- und Aneignungsmöglichkeiten bieten, gibt es nicht.
Gute Stadtplanung hiesse also, nicht alles zu verplanen?
Hengartner: Verplante Stadträume, und mögen sie auch noch so ästhetisch sein, führen dazu, dass man sich als Gast fühlt, nicht wie daheim. Lebendige Stadträume zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch die Menschen, die sie nutzen und bewohnen, angeeignet und damit geformt und mitdefiniert werden können.
Haben Sie ein Beispiel für eine solche Aneignungsmöglichkeit?
Hengartner: Die Brache ist ein protypisches Beispiel für einen nicht-definierten Raum. Der Charme einer Stadt wie Berlin besteht genau aus der Mischung von extrem verplanten, ästhetisierten Flächen und offenen, undefinierten Arealen. Diese bauliche Situation hat sich tief in den Charakter, den Habitus der Stadt eingeschrieben.
Die Brachen in Berlin hat niemand gewollt und geplant, sie sind das Ergebnis von Krieg, Zerstörung, Teilung und Deindustrialisierung.
Hengartner: Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie eine enorme Attraktivität entfaltet haben. Globale Bewegungen wie Urban Gardening und Guerilla Gardening entdecken heute die Qualität urbaner Brachen weltweit.
Wie würden Sie Urbanität definieren?
Hengartner: In Anlehnung an den Titel eines berühmten Aufsatzes des Stadtsoziologen Louis Wirth – «Urbanism as a way of Life» – würde ich Urbanität als einen Lebensstil definieren. Urbanität hat mit bestimmten Erwartungen, Verhaltensweisen, Wert-Orientierungen zu tun. Urbanität findet im Kopf jedes Einzelnen statt, die Voraussetzungen aber liegen in der Umgebung. Für Louis Wirth Grösse waren Grösse, Dichte und Heterogenität einer Stadt die Voraussetzung für Urbanität.
Vor noch nicht allzu langer Zeit standen Städte im Zeichen der Stadtflucht. Grösse, Dichte, Heterogenität wurden als negativ empfunden, funktionale Entflechtung hiess die Losung der Nachkriegsjahrzehnte.
Hengartner: In der Tat: Bis in die Neunzigerjahre hinein galten Städte – auch Zürich – als unwirtliche Orte, wo Arme, Alte und Arbeitslose sich sammeln und die sozialen Probleme sich häufen. Wer es sich leisten konnte, zog ins Grüne.
Seit rund 20 Jahren strömen die Menschen zurück in die Zentren. Was ist der Grund für diese Trendwende?
Hengartner: Die Suburbanisierungswelle der Nachkriegsjahrzehnte ist Ausdruck einer sehr bürgerlichen Wertehaltung. Das Bestreben war, der Privatsphäre möglichst viel Raum zu geben. In den Achtziger- und Neunzigerjahren wurde die Kehrseite dieses Lebensstils sichtbar: Die Bereiche, in denen das Privatleben, die Arbeit, der soziale Austausch und die Freizeit stattfanden, fielen räumlich immer weiter auseinander, verloren den Bezug zueinander. Die Schattenseiten der Suburbanisierung benannte Richard Sennet mit dem Wort von der «Tyrannei der Intimität», die Trendforscherin Faith Popcorn sprach von «Cocooning».
Wer war es, der die Rückbesinnung auf die Städte einleitete?
Hengartner: Es waren kleine Gruppen von Pionieren, welche begannen, die Städte neu zu deuten. Sie sahen sie nicht mehr allein als unwirtliche, lebensfeindliche Verkehrsdrehscheiben und Wirtschaftszentralen, sondern als potenziell attraktive Lebensräume. Studenten, Künstler, Kreative machten sich in verlotterten Stadtbezirken breit, es folgten andere Schichten. Diese Dynamik hat innert weniger Jahre zu einer Umkehr der Konstellation geführt, nämlich dass weniger zahlungskräftige Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend verdrängt werden. In immer mehr städtischen Quartieren wohnt man heute teuer und privilegiert. Früher drohte die Verödung der Stadt durch Verarmung, heute droht die soziale Homogenisierung der Städte auf hohem Niveau.
Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Hengartner: Man muss aufpassen, dass die urbane Vielfalt nicht ausgerechnet in den städtischen Zentren ausgedünnt wird.
War es nur die Umdeutung der Stadt durch Pioniere, welche die Renaissance der Städte bewirkte?
Hengartner: Nein, es gibt noch weitere Faktoren: Verkehrsberuhigungsmassnahmen zum Beispiel, der Wegzug der Industrie und ein gesellschaftlicher Wertewandel, der sich in einer veränderten Freizeitkultur mit Events und Festivals aller Art, wachsender Konsumorientierung und neuen Formen der Inanspruchnahme des öffentlichem Raums zur Selbstpräsentation äussert. Heute muss man keine Affinität zur Gegenkultur mehr haben, um Städte als Lebensraum attraktiv zu finden. Urbanität ist ein zentraler gesellschaftlicher Wert geworden.
Täuscht der Eindruck, dass die Stadt sich auch in den Sozialwissenschaften wachsender Beliebtheit erfreut?
Hengartner: Nein, der Eindruck täuscht ganz und gar nicht. Mit der Neubewertung der Städte als Ort der Vielfalt und der Dynamik wurde die Stadt auch sozial- und kulturwissenschaftlich neu entdeckt.
Wann hat die Hinwendung zum Thema Stadt in den Sozial- und Kulturwissenschaften begonnen?
Hengartner: Die Entdeckung der Stadt durch die Wissenschaft geschah nicht von einem Tag auf den andern, sondern in einem Prozess voller Umwege. Lange hatten auch die Sozialwissenschaften die Stadt einseitig kritisch gesehen. Einer, der entscheidende Anstösse für einen neuen Blick auf die Stadt gab, war der amerikanische Stadtplaner Kevin Lynch. Er wurde dadurch berühmt, dass er Anfang der Sechzigerjahre mit Stadtbewohnern durch die Stadt ging, um zu erfahren, wie sie ihre Umgebung wahrnahmen. Er betrachtete die Stadt nicht wie seine Kollegen quasi als eine Maschine oder Infrastruktur, die es zu optimieren galt, sondern als ein von Menschen gemachtes, gestaltetes, bewohntes und belebtes Gebilde. Er versuchte, Habitus und Habitat – Stadtbewohner und Stadt als Lebensraum – zusammenzudenken. Das klingt heute selbstverständlich, war damals aber neu.
Wie vollzieht sich in Ihrem Fach, der Volkskunde bzw. der Alltagskulturforschung, die Hinwendung zur Stadt?
Hengartner: Meine Disziplin hatte zunächst eine starke Präferenz für das Dorf als Forschungsgegenstand. Sie versuchte sich davon zu emanzipieren, indem sie Relikte dörflicher Gemeinschaftsstrukturen in der Stadt suchte. Auch davon hat sie sich indessen seit Längerem gelöst.
Was beschäftigt Sie in Ihrer Forschung an Städten?
Hengartner: Mich interessiert das Wechselspiel zwischen dem, was in einer Stadt baulich vorliegt, und der Mentalität ihrer Bewohner. Einerseits formt die Stadt die Menschen, die in ihr wohnen. Anderseits prägen die Bewohner die Stadt durch die Erwartungen und Deutungen, die sie an sie herantragen. Die Entwicklung der Städte resultiert aus beidem: sie ist letztlich weder in ihrer Komplexität reduzierbar, noch in allem vorhersehbar.
Die Grenzen zwischen Stadt und Land sind heute kaum mehr zu erkennen. Das Gebiet zwischen Bodensee und Genfersee ist zu einer einzigen Agglomeration verschmolzen. Müsste man, statt von den Städten der Schweiz, von der Schweiz als einer Stadt reden?
Hengartner: Im Grunde schon. Und dies nicht allein aufgrund der hohen Siedlungsdichte im Mittelland. Entscheidend ist, dass die allermeisten Leute in der Schweiz – wie auch sonst in Mitteleuropa – von ihren Vorstellungen und Verhaltensweisen her städtisch, leben. Das heisst: ihr Lebensstil und ihre Vorstellungen und Erwartungen ans gute Leben sind an urbanen Standards orientiert.
Auch wer im Grünen lebt, lebt also in der Regel urban?
Hengartner: Ja, für die meisten sogenannten Landbewohner der Schweiz und Mitteleuropas ist die Stadt der zentrale Bezugspunkt. Auch Leute, die in kleinen Gemeinden leben, sind in komplexe Netzwerkstrukturen integriert – vom Telefon- und Internetanschluss bis hin zur Verkehrsanbindung. Sie nutzen und orientieren sich ganz selbstverständlich an städtisch geprägten Freizeit- Bildungs- und Konsummöglichkeiten, und sie erheben Anspruch auf berufliche Erfüllung, die nicht durch das enge lokale Angebot festgelegt ist.
Wie gross ist das Urbanitätsgefälle zwischen der Stadt Zürich und einer ehemals ländlichen Gemeinde wie – sagen wir – Oberlunkhofen?
Hengartner: Unter Umständen lebt der Stadtzürcher dörflicher als der Oberlunkhofener, der mobil ist und sich unterschiedliche Lebensbereiche erschliesst. In Oberlunkhofen führt die grosse Mehrheit wie überall in der Schweiz ein Leben nach städtischen Werten. Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede: Der Oberlunkhofener beansprucht für seine Privatsphäre mehr Raum, er hat vielleicht ein Haus mit Ganztagsbesonnung und einem Ausblick ins Grüne. Die Stadtzürcherin findet dafür vor der Haustür ein vielfältiges soziales Umfeld. Das sind aber keine eigentlichen Gegensätze mehr, sondern individuelle Varianten innerhalb eines breiten Möglichkeitsspektrums urbaner Lebensführung.
Sollte sich die Bevölkerung ausserhalb der Kernstädte stärker zur Urbanität bekennen, statt dem Bild einer Landidylle nachzuhängen, das längst ausgehöhlt ist?
Hengartner: Allen Bewohnern der Schweiz einen metropolitanen Lebensstil als einzig wahren vorzuschreiben, wäre unsinnig: Es gibt zum Glück heute eine grosse Bandbreite an Lebensstilen, und zu dieser Vielfalt tragen die Agglomerationen massgeblich bei. Wie vielfältig das Leben dort ist, nimmt man oft gar nicht wahr, weil man sich daran gewöhnt hat, sie abwertend als Schwundformen von Urbanität anzusehen. Hier muss man genauer hinsehen und umdenken.
Ist bauliche Verdichtung und damit Verstädterung nicht unvermeidlich, um den Landschaftsverschleiss einzudämmen?
Hengartner: Das Wort «Verdichtung» hat im Moment Hochkonjunktur. Wenn ein bestimmtes Planungsparadigma hegemoniale Kraft entwickelt finde ich das grundsätzlich bedenklich, denn das deutet immer auf Homogenisierung. Homogenisierung aber ist das Gegenteil von Urbanität, verstanden als das puzzleartige Nebeneinander und Ineinander verschiedenster Lebensformen.
Was sind aus ihrer Sicht die drängenden Herausforderung, die sich aus dem Wachstum der Stadt Zürich ergeben?
Hengartner: Das grösste Problem sehe ich darin, dass Freiräume sehr teuer sind, weil der Dichtedruck sehr hoch ist. Brachen, die für die Stadtentwicklung so wichtig wären, sind in Zürich ein grosser Luxus.
Was sagen sie zur immer wieder geäusserten Behauptung, Zürich gleiche sich dem globalen Mainstream an, verliere seine unverwechselbaren Eigenheiten?
Hengartner: Das ist eine einseitige Sicht. Man könnte genauso gut das Gegenteil betonen: Nicht Zürich passt sich dem Mainstream an, sondern andere Städte passen sich dem Beispiel Zürichs an: Die Bahnhofsstrasse etwa ist weltweit zu so etwas wie einer Blaupause für die ideale Einkaufsstrasse geworden.
Ist Zürich Veränderungen gegenüber offen genug?
Hengartner: Städtebaulich nicht immer. So empfinde ich persönlich viele Denkmalschutzmassnahmen als eher übertrieben. Man erlaubt bestimmten Teilen der Stadt nicht mehr, sich weiter zu entwickeln, dabei sind die wenigsten bestehenden Häuser der Stadt über die Jahrhunderte hinweg unverändert geblieben. So verstandener Denkmalschutz – den wir als rigides Heritage-Regime bezeichnen – ist ein Symptom dafür, dass man Veränderungen einseitig als Verlust wahrnimmt. Das ist gerade angesichts einer zweiten Urbanisierung nicht wirklich angemessen: Zur Stadt gehört, dass sie sich laufend verändert.