Navigation auf uzh.ch
Krebs ist in unseren Breitengraden weit verbreitet: Statistisch gesehen ist in Europa jeder dritte Mensch im Lauf seines Lebens von der heimtückischen Krankheit betroffen. Obwohl das Krebsrisiko aber so hoch ist, schätzen wir die Gefahr, an Krebs zu erkranken, in der Regel viel tiefer ein. «Wir neigen dazu, die Welt durch eine rosa Brille wahrzunehmen», sagt der Neuropsychologe Peter Brugger, «beim Einschätzen des eigenen Krankheits- und Unfallrisikos genauso, wie wenn es um die Wahrscheinlichkeit geht, dass wir die Stelle verlieren oder unsere Ehe scheitert.»
Diesen Hang zum unrealistischen Optimismus hat Brugger kürzlich auch mit einem Test bestätigen können, den er anlässlich einer Studie durchgeführt hat. Der Titularprofessor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie an der UZH legte 31 Testpersonen eine Liste mit zehn mehr oder weniger schweren Krankheiten vor – von Aids über Grippe und Hirntumor bis Zuckerkrankheit. Die Probanden sollten nun bei jedem dieser Leiden angeben, wie hoch sie das Risiko einschätzen, künftig davon betroffen zu sein.
Das Resultat belegte unseren optimistischen Blick: Die Testpersonen schätzten die eigenen Krankheitsrisiken deutlich geringer ein als diejenigen des Durchschnittsmenschen.
«Je schwerer eine Krankheit ist, desto stärker neigen wir zu unrealistischem Optimismus», sagt Brugger. Ganz nach dem Motto: An Krebs erkranken die anderen, nicht aber ich. «Das ist wohl eine natürliche Schutzfunktion», mutmasst der Forscher, «angesichts der vielen Risiken und Gefahren in der Welt brauchen wir den Blick durch die rosa Brille, um gut leben zu können.» Ein gewisses Mass an unrealistischem Optimismus gehört also zur Condition humaine.
Im Klinikalltag am Universitätsspital wird Peter Brugger immer wieder mit Patienten konfrontiert, die quasi eine krankhafte Form dieses unrealistischen Optimismus zeigen. Menschen, die an einer so genannten Anosognosie leiden, verleugnen die eigene Erkrankung systematisch.
Konkret tritt das Phänomen etwa bei Patienten auf, deren rechte Hirnhälfte von einem Schlaganfall betroffen ist und die in der Folge linksseitig gelähmt sind. Diese Lähmung stellen sie aber total in Abrede. «Um die Krankheit wegzureden, werden oft völlig irrationale Argumente vorgebracht», sagt Brugger, «etwa die linke Hand sei eben immer schon etwas schwächer und unbeweglicher gewesen als die rechte.» Gefährlich werden kann die Anosognosie, wenn Patienten mit einer ganzseitigen Lähmung aufzustehen versuchen und stürzen.
Bei einer Schädigung der linken Hirnhälfte und Lähmung der rechten Körperseite tritt das Phänomen in der Regel nicht auf. «Unsere beiden Hirnhemisphären funktionieren ganz unterschiedlich», sagt Neuropsychologe Brugger, «während die rechte Hälfte etwa für negative Emotionen und die Gefahrerkennung zuständig ist, sind die neuronalen Zentren für positive Emotionen in der linken Hälfte angesiedelt.» Wird die rechte Hirnhälfte durch einen Schlaganfall geschädigt, kann das dazu führen, dass die Krankheit und auch die Gefahr, die von ihr ausgeht, gar nicht wahrgenommen werden.
Eine Anosognosie ist unmittelbar nach einem Schlaganfall besonders stark ausgeprägt und löst sich in der Regel mit der Zeit von selbst auf. Aus früheren Studien wusste man aber auch, dass sie im akuten Zustand durch eine Spülung des linken äusseren Ohrgangs mit kaltem Wasser kurzfristig aufgehoben werden kann. Die Krankheit wird dann einen Moment lang anerkannt, die rosa Brille gleichsam abgelegt. Durch die Stimulation des Ohrs werden bestimmte Regionen im Frontallappen der Grosshirnrinde aktiviert, die zu diesem Effekt führen.
Peter Brugger wollte nun wissen, ob sich die Ohrstimulation auch auf den unrealistischen Optimismus von gesunden Menschen auswirkt. Deshalb legte er seinen 31 Probanden zwei weitere Listen mit mehr oder weniger schweren Krankheiten vor, während ihnen in Liegestuhlposition sitzend zuerst das eine und danach das andere Ohr mit kaltem Wasser gespült wurde.
Die Resultate zeigen einen ähnlichen Effekt wie bei Anosognosie-Patienten: Nach Stimulation des linken Ohrs wurden alle Krankheitsrisiken plötzlich deutlich realistischer eingeschätzt als zu Beginn des Tests. Die Stimulation des rechten Ohrs zeigte dagegen keinen vergleichbaren Effekt, hier blieb der unrealistische Optimismus gleich ausgeprägt wie ohne Manipulation.
Mit seiner Studie belegt Peter Brugger, dass unsere Neigung zu unrealistischem Optimismus eine neuronale Basis hat und mit dem klinischen Symptom der Anosognosie verwandt ist. Zudem konnte er zeigen, dass sich beide Phänomene durch die Stimulation des linken Ohrs mit kaltem Wasser beeinflussen lassen. Durch eine simple Temperaturänderung lässt sich der rosa Filter in unserem Hirn abdämpfen. Die Welt wird damit nicht besser oder schöner, aber unser Platz in ihr wird vorübergehend etwas realistischer beurteilt.