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In Japan ist der Traum von der energiewirtschaftlichen Autarkie vorerst ausgeträumt. 54 der insgesamt 56 Reaktoren sind zur Zeit ausser Betrieb, die beiden noch laufenden werden demnächst ebenfalls vom Netz genommen.
Der Inselstaat, der jahrzehntelang in hohem Grad auf Atomkraft gesetzt hatte, muss nun auf seine konventionellen Kraftwerke zurückgreifen und grosse Mengen fossile Energieträger importieren. Das wirkt sich negativ auf die Handelsbilanz aus und treibt die Kosten für die Industrieproduktion in die Höhe. Ein Stressfaktor für die ohnehin schon angeschlagene japanische Wirtschaft.
Für David Chiavacci, Mercator-Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie an der UZH, ist ein Jahr nach dem Reaktorunglück von Fukushima noch völlig offen, welche Richtung die japanische Energiepolitik in Zukunft einschlagen wird. Die regierende Demokratische Partei ist in der Atomfrage gespalten, ebenso die Bevölkerung. Der Wunsch nach einem Ausstieg aus der Atomenergie treibt Zehntausende auf die Strasse, zugleich sind schwerwiegende ökonomische Interessen an die Kernenergie geknüpft. So treibt Japan nach wie vor den Export von Nukleartechnologie voran. Vor kurzem erst wurden diesbezüglich Verhandlungen über Ausfuhren nach Indien und China aufgenommen.
David Chiavacci erforscht die Entwicklung und die gegenwärtige Krise des japanischen Gesellschaftsmodells. Das Reaktorunglück von Fukushima, sagte er an der Podiumsdiskussion, sei ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der japanischen Gesellschaft. Die Katastrophe habe der Bevölkerung aufgezeigt, welche Hypothek die kartellartigen Verflechtungen der Verantwortungsträger aus Wirtschaft, Politik und Bürokratie für das Land darstellt. Fukushima liess das schon zuvor brüchig gewordene Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den Eliten weiter erodieren. Dabei befindet sich nicht nur das «nukleare Dorf» – so wird in Japan das Energiekartell genannt – auf dem Prüfstand, sondern mit ihm auch die ganze durch die Nachkriegszeit geprägte gesellschaftliche Struktur des Landes.
Ganz anders als in Japan stellt sich die Situation in China dar. Simona Grano, Postdoktorandin am Ostasiatischen Seminar der UZH, skizzierte an der Podiumsdiskussion die dortige Situation. 14 Reaktoren sind in China zur Zeit in Betrieb, die allerdings nur ein Prozent zur nationalen Stromversorgung beitragen. 25 weitere AKWs sind in Bau – keines davon ist technologisch auf dem neuesten Stand. Für die nächsten acht Jahre sind 32 weitere AKWs geplant. Qualifiziertes Wartungspersonal, so Simona Grano, sei allerdings schon heute knapp. Die Risiken der Nukleartechnologie würden in der chinesischen Öffentlichkeit kaum thematisiert. Überhaupt hätte die Kernenergieerzeugung in der öffentlichen Wahrnehmung nur einen sehr geringen Stellenwert. Das Unglück von Fukushima wurde in den Medien zwar thematisiert, aber fast ausschliesslich unter dem Aspekt der chinesischen Hilfeleistungen für Japan, berichtete Simona Grano.
Im dicht besiedelten Taiwan sind sechs Atomreaktoren am Netz. Sie wurden in den Siebzigerjahren geplant, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von China zu gewährleisten. Es gibt laut Simona Grano zwar schon seit langer Zeit eine kleine, aktive Anti-AKW-Bewegung in Taiwan. Viele Taiwanesen seien aber erst durch Fukushima für die Risiken der Atomenergie sensibiliert worden. Im Gefolge der Katastrophe, so berichtete Simona Grano, die eine Habilitation über Umweltfragen in Taiwan und Hongkong schreibt, sei es zu Demonstrationen mit mehr als 15'000 Beteiligten gekommen. Der Protest richte sich hauptsächlich gegen ein Neubauprojekt in einem Gebiet unweit der Hauptstadt Taipeh. Rund siebzig ozeanische Vulkane in der Umgebung stellen hier einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar.
Am heftigsten waren die Reaktionen auf Fukushima nicht in Ostasien, sondern im weit entfernten Europa. Patrick Kupper erklärte dies im Podiumsgespräch mit den starken zivilgesellschaftlichen Strukturen und mit der langen Tradition gesellschaftsweiter Kontroversen rund um die Nuklearenergie in vielen europäischen Ländern. Der Privatdozent für Umwelt-, Technik- und Wissensgeschichte an der ETH Zürich, der zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Kernenergie und der Umweltschutzbewegungen in der Schweiz verfasst hat, zeigte sich überzeugt, dass die Atomenergie in Europa wegen mangelnder Akzeptanz in der Bevölkerung ihren Höhepunkt schon lange überschritten habe. Seit Tschernobyl befinde sich dieser Energiezweig auf einem langsamen Rückzug.
«Versuche, der Kernenergie in Deutschland, Italien und Schweiz mit dem Argument der Klimaverträglichkeit zu einer neuen Blüte zu verhelfen, wurden durch Fukushima gestoppt», sagte Kupper. In dezentral organisierten Staaten mit einer starken Zivilgesellschaft habe es die Atomwirtschaft generell schwerer als in zentralistisch beziehungsweise autoritär regierten Ländern, stellte er fest.
Als Zukunftsmärkte für Antomenergie sieht Kupper China, Südkorea, möglicherweise auch Indien. Anderswo, etwa in den USA, sei kaum mit einer wesentlichen Ausweitung der Kernenergie-Produktion zu rechnen. Wieder andere Staaten wie Deutschland und die Schweiz planten den Ausstieg. So sucht seit Fukushima jedes Land in der Energiepolitik seinen eigenen Weg.