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«Wir schaffen Klarheit – seit 100 Jahren». Das Motto der Jubiläumsfeier des Instituts für Rechtsmedizin (IRM) der Universität Zürich klingt selbstbewusst. Und dies mit Grund. Ein Sherlock Holmes wäre begeistert gewesen, hätte er vorausgesehen, was die Rechtsmedizin alles ermöglicht hat: zum Beispiel den genetischen Fingerabdruck oder die virtuelle Autopsie anhand bildgebender Verfahren. Von solchen wissenschaftlich-technologischen Höhenflügen konnte der Meisterdetektiv nicht einmal träumen. Doch die Grundidee, welche die Rechtsmedizin bei der Aufklärung mutmasslicher Gewaltverbrechen leitet, ist nach wie vor dieselbe wie bei Holmes: Ziel ist, mit analytischer Schärfe und naturwissenschaftlich geschultem Blick anhand winziger Details einen Tathergang zu rekonstruieren.
In derselben Epoche, in der Arthur Conan Doyle seine Sherlock-Holmes-Stories ersann – einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzungen und spektakulärer technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften – , liegen auch die Anfänge des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich. Am 12. Juli 1912 wurde es unter dem Namen «gerichtlich-medizinisches Institut» gegründet. Die NZZ widmete damals dem Ereignis einen grossen Artikel auf der Frontseite – so wichtig stufte sie es ein.
Erster Direktor des Instituts wurde Heinrich Zangger (1874–1957), ein weitblickender Gelehrter mit breitgefächerten Interessen. Der Briefwechsel mit seinem langjährigen Freund und Diskussionspartner Albert Einstein ist nach mehrjähriger Vorbereitungszeit soeben in Buchform erschienen – pünktlich zum Jubiläum.
In einer kurzweiligen Rede zur Hundert-Jahr-Feier in der Aula zeichnete Markus Notter, alt Regierungsrat und Ehrendoktor der Universität Zürich, ein lebendiges Bild der Anfangsjahre des Rechtsmedizinischen Instituts. Ausgiebig zitierte er aus den im Staatsarchiv aufbewahrten Berichten und Gutachten, die damals erstellt wurden. Beschreibungen drastischer Schicksale finden sich darin, chronologisch sortiert und mit Querverweisen auf die jeweiligen Todesarten versehen: Erhängen, Ersticken, Erstechen, Erschiessen und so weiter. Notter machte auf die für heutige Ohren ausschweifend formulierten Tatortschilderungen aufmerksam und attestierte manchen von ihnen eine «geradezu poetische Qualität».
Die Fotografie war in der Frühzeit des Rechtsmedizinischen Instituts zwar schon verfügbar, für forensische Zwecke aber erst von geringem Nutzen. Umso wichtiger waren akribische Beschreibungen. Dagegen gehören bildgebende Verfahren heute zu den wichtigsten technologischen Neuerungen in der Rechtsmedizin, wie Michael Thali – seit einem Jahr Direktor des Instituts – in seinem Überblick über die Entwicklungsschwerpunkte des IRM feststellte. Ein postmortales Imaging-Center, das 2010 mit Hilfe eines Legats zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung eingerichtet werden konnte, trug dazu bei, dass das IRM in diesem Bereich sehr gut aufgestellt ist. Die sogenannte «Virtopsy»-Technologie, die hier aufgebaut und gepflegt wird, ermöglicht durch Einsatz von Computer- und Magnetresonanztomographie dreidimensionale Einblicke ins Innere eines Leichnams, ohne dass dieser dabei aufgeschnitten werden müsste.
Führend ist das IRM zudem schon seit einiger Zeit im Bereich der forensischen Genetik. Der vormalige Direktor des Instituts, Walter Bär, war einer der ersten, der in der Gerichtsmedizin den genetischen Fingerabdruck verwendete. Momentan wird die Roboterisierung vorangetrieben, um molekulargenetische Untersuchungen zu beschleunigen.
Auch im Bereich der forensischen Toxikologie und Pharmakologie stehen grosse Neuerungen an, wie Michael Thali in seiner Tour d’Horizon weiter ausführte. Die Innovationen zielen insbesondere auf verfeinerte und effizientere Analyse-Prozesse. Thali stellte kühn eine «Overnight-Toxikologie» in Aussicht, in der etwa eine Urin- Probe in einem Durchgang auf sämtliche darin befindliche Substanzen untersucht werden kann. Nachweise von Gifteinwirkungen können so wesentlich effizienter als zuvor durchgeführt werden. Entsprechend wird es bald möglich sein, an einem einzelnen Haar den gesamten Drogen- und Medikamentenkonsum eines Menschen abzulesen, während bisher an einem Haar nur einzelne Drogen nachgewiesen werden konnten.
Die Rechtsmedizin gehört – wie zum Beispiel auch die diagnostischen Radiologie, die Labortierkunde oder die Sozial- und Präventivmedizin – zu den sogenannten Querschnittfächern der Medizinischen Fakultät, wie Dekan Klaus Grätz in seinem Vortrag ausführte. Sie bewegt sich in einem grossen, transdisziplinären Spannungsfeld und bewirtschaftet zahlreiche Schnittstellen. Die fakultätsübergreifenden Beziehungen zur Rechtswissenschaft sind dabei besonders eng.
Einen Überblick über die verschiedenen Kooperationen zwischen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und dem Institut für Rechtsmedizin gab Brigitte Tag, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der UZH. Sie erwähnte insbesondere die von Walter Bär ins Leben gerufenen Vorlesungen zum Arzt- und Medizinrecht und das heute sehr beliebte und erfolgreiche Doktoratsprogramm «Biomedical Ethics and Laws». Ein Meilenstein sei zudem die Gründung des universitären Kompetenzzentrums Medizin - Ethik - Recht Helvetiae (MERH) vor drei Jahren gewesen.
Auf ein weiteres Spannungsfeld machte Regierungsrätin Regine Aeppli in ihrer Ansprache aufmerksam: jenes zwischen Forschung und Dienstleistung. Sie attestierte dem Institut, dass es diesen Spagat hervorragend bewältige.
Wie gross das Aufgabenspektrum ist, welches das IRM in der Zusammenarbeit mit Justiz und Polizei übernimmt, wurde auch in den Referaten von Andreas Brunner, leitendem Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, Thomas Würgler, Kommandant der Zürcher Kantonspolizei, und Jürg Zingg, Chef der Region West der Stadtpolizei Zürich, deutlich. Die beiden Polizei-Vertreter machten insbesondere auf die wichtige Rolle der Rechtsmedizin in der Spurensicherung bei mutmasslichen Gewaltverbrechen aufmerksam. «Die Rechtsmedizin», brachte es Jürg Zingg auf den Punkt, «gibt jenen eine Stimme, die nicht mehr für sich selbst sprechen können.»
Rektor Andreas Fischer schliesslich stellte in seinem Referat eine noch junge, wenig bekannte Disziplin vor, die ebenfalls im Dienst der Aufklärung von Verbrechen steht: die forensische Linguistik. Sie versucht, individuelle Sprachmerkmale zu identifizieren, also gewissermassen «linguistische Fingerabdrücke» einzelner Personen zu nehmen. Dies kann dazu dienen, Aufschlüsse über die Authentizität und Autorschaft strafrechtlich relevanter Texte wie zum Beispiel Drohbriefe, Testamente oder Bekennerschreiben zu gewinnen. Da individuelle sprachliche Eigenheiten jedoch nicht angeboren sind, sondern Veränderungen unterliegen, werde sich der Anspruch des Fachs, zweifelsfreie linguistische Fingerabdrücke zu erstellen, wohl kaum je ganz einlösen lassen, sagte Fischer. Die Rechtsmedizin bewegt sich hier mit dem genetischen Fingerabdruck auf weit sichererem Terrain.