Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Mikrokredite

Pandoras Geldbüchse

Das Geschäft mit Mikrokrediten blüht. Doch mit dem Erfolg steigt auch die Verschuldungsgefahr der Kreditnehmer. Ökonominnen haben untersucht, wie sich eine drohende Überschuldungskrise messen lässt.
Roger Nickl
Ein eigenes Geschäft gegründet: Subira Abdi (rechts) und ein Kollege konnten dank eines Mikrokredits in Mzumbe (Tansania) einen Coiffeur- und Nähsalon eröffnen.

Gut zwanzig Stockwerke hoch ist der Büroturm der Grameen Bank in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Das imposante Gebäude ist nicht nur ein Symbol für den Erfolg des Unternehmens, es steht für die Blüte eines ganzen Wirtschaftszweigs. Die Grameen Bank war zu Beginn der 1980er- Jahre weltweit eine der ersten Anbieterinnen von Mikrokrediten – Kleinstkrediten von 1 bis 1000 Dollar – für die Ärmsten der Armen.

Menschen, denen eine traditionelle Bank auf Grund ihrer prekären und unsicheren Lebenslage nicht einen Cent geliehen hätte und die deshalb auf Gedeih und Verderb den lokalen Geldverleihern mit ihren Wucherzinsen ausgeliefert waren. Mikrobanken wie die Grameen Bank sprangen in diese Lücke und ermöglichten es armen Menschen, zu weit faireren Konditionen zu Geld zu kommen, um den Alltag besser zu bewältigen oder ein eigenes Geschäft zu gründen.

Arme als selbstbewusste Kunden

In den letzten dreissig Jahren ist das Geschäft mit Mikrokrediten zu einer eigentlichen Erfolgsgeschichte geworden. Annette Krauss hat die Entwicklung sowohl als Mitarbeiterin einer Entwicklungshilfeorganisation und der UN als auch als Wissenschaftlerin verfolgt und forscht heute am von ihr gegründeten Center for Microfinance, das Teil des Instituts für Banking und Finance der Universität Zürich ist.

«Bis 2010 war Microfinance ein ungebrochener Wachstumsmarkt», sagt die Ökonomin, «für die Anbieter von Mikrofinanzdienstleistungen war es kein Problem, rentabel zu sein und Wachstum im zweistelligen Bereich zu erreichen.» Das Volumen des weltweiten Mikrokreditmarktes wurde 2010 auf rund 60 Milliarden Dollar geschätzt.

Hilfe zur Selbsthilfe heisst die Idee, die hinter der Vergabe von Mikrokrediten steht. Dass diese Idee in der Praxis tatsächlich funktioniert, hat Annette Krauss auf zahlreichen Reisen in arme Länder festgestellt.

In der Mikrofinanz werden arme Menschen als selbstbewusste und selbstverantwortliche Kunden betrachtet, die durchaus rückzahlungsfähig und -willig sind. «Diese Haltung hat sich bis heute nicht verändert», sagt Annette Krauss, «sie unterscheidet sich deutlich von der Entwicklungshilfe, wo man immer noch von ‹Beneficiaries›, von Leistungsempfängern spricht.» Verändert hat sich im Laufe der Jahre aber der Hintergrund der Investoren.

Schatten des Mikrokreditmarktes

Die Geldgeber der Pionierzeit hatten vor allem soziale Ziele. Sie sahen Mikrokredite als entwicklungspolitisches Instrument, das es ermöglicht, Menschen aus der Armut zu befreien. Auf die Frage, ob dies tatsächlich gelingt, hat die Wissenschaft übrigens bislang noch keine eindeutige Antwort gefunden.

Eine Folge des Erfolgs des Mikrokreditmarktes ist nun, dass sich zunehmend auch Investoren dafür interessieren, denen es auch oder nur noch um die eigene Rendite geht. «Besonders für konservative Anleger ist das eine interessante Diversifizierung ihres Anlageportfolios», sagt Krauss, «denn der Mikrofinanzmarkt gilt als relativ sicher und korreliert wenig mit anderen Märkten.» So bieten mittlerweile auch Banken und Vermögensverwalter Anlagen in Mikrofinanz-Fonds an.

Mit dem Wachstum des Mikrokreditmarktes sind allerdings auch seine Schatten grösser geworden. «Inzwischen haben wohl einige das Gefühl, sie hätten da eine Büchse der Pandora geöffnet», meint Expertin Krauss. Die Frage ist etwa, wie weit das Mikrokreditgeschäft ausgedehnt werden kann, ohne dass dabei die sozialen Ziele aus dem Blick geraten. Denn in einem schlecht regulierten Markt steigt die Gefahr, dass Kreditnehmer überfordert werden und sich verschulden.

Wenn Banken zu schnell wachsen

Auf dem Spiel steht dann die enge Zusammenarbeit zwischen den Kreditnehmern und den Sachbearbeitern der Mikrobank. Sie ist quasi der Humus, auf dem das Mikrokreditgeschäft bislang Früchte tragen konnte. Bevor sie einen Kredit vergeben, prüfen die Sachbearbeiter jeweils vor Ort die Lebenssituation der Kunden. Diese Prüfung ersetzt die Sicherheiten, die arme Menschen nicht bieten können.

Dieses Kernmodell eines sozialverträglichen Microfinance-Banking wird nun gefährdet, wenn Mikrobanken zu schnell wachsen, überspannte Renditeerwartungen der Investoren bestehen oder zu viele Anbieter auf dem Markt sind. Banken neigen dann dazu, ungeprüft Kredite zu vergeben. Oder verschiedene Banken leihen demselben Kunden Geld, ohne über bereits bestehende Kredite informiert zu sein. Die Folge: Kreditnehmer können überfordert werden und verschulden sich.

Genau dies passierte ab 2008 in zunehmendem Mass: In verschiedenen Ländern häuften sich die Fälle, in denen eine grosse Zahl von Kunden ihre Kredite nicht mehr zurückzahlten – in Bosnien und Marokko genauso wie im pakistanischen Punjab und im indischen Andhra Pradesh.

Bei den Anlegern läuteten die Alarmglocken. Dies umso mehr, als sowohl Wirtschaft als auch Wissenschaft bisher wenig darüber wissen, wie sich die nationalen Mikrofinanzmärkte entwickeln und in welchen Ländern sich allenfalls eine Überschuldungskrise abzeichnet.

Studie in 13 Ländern

Annette Krauss hat nun in einer Pilotstudie, die sie im Auftrag des grossen Schweizer Vermögensverwalters responsAbility durchgeführt hat, am Beispiel von 13 Ländern aufgezeigt, wie man eine sich abzeichnende Überschuldungskrise messen kann und welche Faktoren für die Überschuldung besonders relevant sind.

Für ihre Pilotstudie haben die Forscherin und ihre Mitarbeiterinnen makroökonomische Daten des internationalen Währungsfonds und die Zahlen von Mikrofinanz-Instituten untersucht. Bei letzteren haben sie auch Umfragen gemacht.

Von den Bankern wollten sie beispielsweise wissen, ob das Investitionsvolumen gestiegen ist. Anders gefragt: Haben sie zu viel Kapital erhalten und müssen deshalb zu schnell wachsen? Oder sie wollten wissen, ob Anreize für die Mitarbeiter gesetzt werden, um mehr Geld zu verleihen.

Beides wären Indizien, dass Kredite schnell und ohne eingehende Prüfung vergeben werden. Die Daten, die die Forscherinnen so aus verschiedenen Quellen zusammen-getragen und analysiert haben, wurden schliesslich mit der Literatur zum Thema abgeglichen und im Gespräch mit Experten hinterfragt.

Kambodscha im roten Bereich

Auf Grund ihrer Analysen haben die Ökonominnen schliesslich 14 Indikatoren herausgearbeitet, die für eine sich abzeichnende Überschuldungskrise relevant sind. Als besonders einflussreich auf eine Überschuldung erwiesen sich die internationalen Geldtransfers von Familienangehörigen im Ausland nach Hause. Blieben diese – wie in Bosnien – auf Grund der globalen Finanzkrise aus, brachte das die Familien in der Heimat in finanzielle Bedrängnis.

Weitere wichtige Faktoren sind die Marktdurchdringung von Mikrobanken und das damit verknüpfte Multiple borrowing. Je höher die Marktdurchdringung ist, desto schwieriger ist es für Mikrofinanz-Institute, neue Kunden zu finden. Damit steigt die Gefahr, dass ein Kunde gleich mehrfach mit Krediten beglückt wird und sich überschuldet. Die Überschuldungsgefahr wächst auch, wenn der enge Kontakt zwischen Kunde und Anbieter verloren geht und wenn ein nationales Kreditbüro, das Informationen aller Kreditnehmer sammelt, fehlt.

Mit Hilfe dieser und weiterer Indikatoren konnten die Forscherinnen auch Entwicklungstendenzen für einzelne Länder ausmachen, die sie mit einem Ampelschema dargestellt haben. So steht die Ampel für Bolivien auf Grün: Es sind

nur geringe Signale auszumachen, die auf das Entstehen einer Überschuldungskrise hinweisen. In Ghana hingegen stehen die Lichter auf Orange, und Kambodscha befindet sich bereits im roten Bereich. Dort wird momentan versucht, ein nationales Kreditbüro aufzubauen und so die Überschuldungsproblematik zu bekämpfen, weiss Krauss.

Neues Bewusstsein für soziale Ziele

Auch wenn sich der Mikrofinanzmarkt in den letzten Jahren stark verändert hat, geht die Entwicklung für Annette Krauss nach wie vor in die richtige Richtung. «Es ist ein neues Bewusstsein dafür entstanden, soziale Zielsetzungen und ihre Umsetzung regelmässig zu überprüfen», sagt sie. Zudem brauche es künftig auch vermehrt Angebote zum Mikrosparen und für Mikroversicherungen, damit Mikrokredite nachhaltig wirken – vor allem letztere sind noch wenig etabliert.

Und schliesslich, meint Krauss, genügen Mikrobanken natürlich längst nicht, um den Menschen in Entwicklungsländern ein besseres Leben zu ermöglichen. Neben Finanzdienstleistungen brauche es genauso Gesundheitseinrichtungen, Schulen und vieles mehr. Diese sind jedoch weit mehr als die Mikrofinanzierung auf staatliche Investitionen und Spenden angewiesen.