Navigation auf uzh.ch
Reto gilt als hyperaktiv. Die Diagnose lautet ADHS. Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fällt es schwer, sich zu konzentrieren, sie sind impulsiv und manchmal werden sie aggressiv. In der Schweiz wird ADHS von allen Verhaltensstörungen im Kindesalter am häufigsten diagnostiziert. Doch einen eindeutigen Test, um ADHS festzustellen, gibt es nicht.
In den Augen der Lehrer ist Reto behandlungsbedürftig. Doch seine Mutter weigert sich, ihm Ritalin zu geben. Nach einiger Zeit knickt sie aufgrund des schulischen Drucks jedoch ein und verabreicht dem Knaben das Medikament. Damit steht sie nicht allein da. Alarmierend ist die Tatsache, dass die Abgabe von Ritalin stetig zunimmt. Niemand weiss, ob eine Über- oder Unterversorgung mit Ritalin besteht.
Hellhörig macht auch die Tatsache, dass es bei der Verschreibungspraxis ein Nord-Süd-Gefälle gibt. In den nördlichen Teilen der Schweiz wird mehr Ritalin an Kinder und Jugendliche verschrieben als im Tessin. Deshalb vermuten viele, ADHS sei nur eine Modekrankheit.
«Es fehlt ein zuverlässiger Biomarker und es gibt keinen eindeutigen neuropsychologischen Test zur Diagnose von ADHS», sagte Privatdozent Oskar Jenni an einer Tagung, die kürzlich in der Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich stattfand. Biomarker sind charakteristische biologische Merkmale, die objektiv gemessen werden können und auf biologische Prozesse im Körper hinweisen.
Wie Jenni ausführte, bestehen für ADHS verschiedene Erklärungsmodelle. Sie stützen sich entweder auf naturwissenschaftlich-medizinische oder psychologisch-pädagogische Theorien. Weil beim Thema ADHS berufspolitische und ökonomische Interessen der Beteiligten nicht ausser Acht gelassen werden dürfen, sei es wichtig, die verschiedenen Erklärungsmodelle der Störung zu hinterfragen und deren Grundannahmen offen zu legen, sagte Jenni.
Jenni erläuterte fünf der gängigsten Erklärungsmodelle: Der biomedizinische Ansatz geht davon aus, dass bei ADHS eine biologische Störung vorliegt, die entweder durch eine genetische Erkrankung oder durch eine Hirnschädigung verursacht wird. Der neuropsychologische Ansatz setzt gestörte neuropsychologische Regelkreise im Gehirn voraus, während biopsychosoziale Erklärungsmodelle Umwelteinflüsse als Erklärungsansatz für ADHS mit einbeziehen.
Anders als diese biologisch-medizinischen Modelle geht das psychodynamische Modell davon aus, dass ADHS als Symptom und Ausdruck von Bewältigungs- und Lösungsstrategien in Krisen entsteht, etwa bei familiärer oder schulischer Überforderung. Schliesslich interpretiert das Kulturmodell ADHS als ein rein kulturelles und soziales Konstrukt. «Dieses Modell ist in den USA in den letzten Jahren trotz der Dominanz der biologisch-medizinischen Modelle in die Mode gekommen», sagte Jenni.
Dass diagnostische Kategorien nötig seien, um das Phänomen ADHS zu erfassen, stehe ausser Frage, bilanzierte Jenni. Denn die Eltern, die Versicherer und die Gesellschaft wollten schliesslich eine klare Antwort, ob eine Störung vorliege oder nicht. Das Problem sei lediglich, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Studien gezeigt hätten, dass ADHS eine dimensionale Störung sei, so wie die Autismus-Spektrum-Störung, und dass die Grenze zwischen normal und krank fliessend sei. Das lasse im klinischen Alltag viel Interpretationsspielraum zu und würde Spannungen und Unsicherheiten hervorrufen, weil die Diagnose damit auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen abhängig sei. Eine ethische Reflexion sei darum unbedingt notwendig, betonte Jenni.
Da es keine allgemein akzeptierten Erklärungsmodelle für ADHS gebe, müsste das Phänomen aus möglichst breiter und vielfältiger Perspektive betrachtet werden, meinte Jenni. Deshalb spricht er sich für die Einrichtung eines «Think Tanks ADHS» für die Schweiz aus. In dieser Expertengruppe müssten Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ethiker Einsitz nehmen. Deren Aufgabe sei es dann, Fachleute zu unterstützen, die mit ADHS-Kindern zu tun haben. Schliesslich gehe es darum, die Lebensverhältnisse an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen – und nicht umgekehrt.