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Toxikologisches Informationszentrum

Gefährliche Pülverchen

Das Schweizerische Toxikologische Informationszentrum ist mit der Universität Zürich assoziiert und an Lehre und Forschung beteiligt. Gleichzeitig ist es das toxikologische Beratungszentrum für die ganze Schweiz. Jetzt veröffentlichte das Informationszentrum die aktuellen Zahlen zu Vergiftungen im Jahr 2011. Grund genug, einmal hinter die Kulissen zu schauen.
Marita Fuchs
An der Streetparade beliebt und toxisch: «Spice» ist die Bezeichnung für eine Droge, die aus synthetischen Cannabinoiden sowie verschiedenen getrockneten Pflanzenteilen besteht.

Schon am frühen Morgen ist es heiss. In den Räumen an der Freiestrasse in Zürich stehen die Fenster weit auf. Wie jeden Sommer klingeln die Telefone besonders häufig. Gestern gingen etwa 150 Anrufe ein, heute Morgen sind es bereits 50. Darunter Anfragen einer besorgten Mutter. Ihr kleiner Bub hat mindestens sechs der rosaroten Tabletten geschluckt: Antidepressiva.

Gleichzeitig geht die Frage eines Arztes ein, dessen Patient Salpetersäure eingeatmet hat und schlecht atmen kann. Und dann ist da noch das Paar, das sich aus Fingerhutblättern einen Salat gemischt hat und schwerste Vergiftungserscheiungen zeigt. Pflanzen werden oft verwechselt. Beim Fingerhut ähneln die Blätter denen eines Salats und – mit Salatsauce angereichert – schmeckt man das Gift nicht.

150 Fälle pro Tag

Das Toxikologische Informationszentrum (STIZ) hat jetzt seinen Jahresbericht 2011 vorgelegt. Tagtäglich gehen über 150 Anfragen zu Vergiftungsfällen ein. 35'576 Beratungen wurden durchgeführt, in über 32'000 Fällen ging es um Giftkontakte, in rund 3'400 Fällen um Prophylaxe.

Mehr als 15'000 Giftkontakte betrafen Kinder, meist im Vorschulalter. Acht von elf Todesfällen gehen auf das Konto der Medikamentenvergiftungen, die restlichen drei auf dasjenige von Vergiftungen mit technisch-gewerblichen Chemikalien.

Badesalz an der Streetparade

Hugo Kupferschmidt, Direktor des Schweizerischen Toxikologischen Zentrums, hat heute Dienst im Backoffice. Er ist der Mann für die schwierigen Fälle. Mit noch müden Augen schaut er auf seinen Computerbildschirm. Am Wochenende hatte er auf der Notfallstation des Universitätsspitals Zürich Dienst.

Er unterstützte das Spitalpersonal bei der Betreuung intoxikierter Patienten während der Streetparade. Das macht er jedes Jahr. Er weiss, welche Drogen im Milieu gerade en vogue sind. Die Beliebtheit von Kokain, sagt er, nehme etwas ab, im Kommen seien dagegen neue Mischungen aus Cannabis und Halluzinogenen, die unter Begriffen wie «Badesalz» oder «Spice» gehandelt werden. Er wundere sich manchmal über die Raver, die in naivem Vertrauen Pülverchen schlucken, ohne zu wissen, was sie enthalten und sich dann wundern, wenn ihr Körper implodiere.

Hugo Kupferschmidt, Direktor des Schweizerischen Toxikologischen Zentrums: «Ein Arzt, der zum ersten Mal mit dem Biss einer Viper konfrontiert ist, gerät schnell einmal ins Schwimmen».

Im so genannten Frontoffice beraten Ärztinnen und Ärzte rund um die Uhr dringende Anfragen zu Vergiftungsfällen aus der ganzen Schweiz. Wenn sie nicht ganz sicher sind, was am besten zu tun ist, fragen sie bei Kupferschmidt im Backoffice nach.

Substanzen in der Möbelpolitur

«Wer im Backoffice arbeitet, hat mehr Zeit für die Recherche. Denn bei ungewöhnlichen Vergiftungsfällen müssen wir nach der besten Behandlungsmöglichkeit suchen», sagt Kupferschmidt. Nicht immer liegt die Lösung klar auf der Hand. Das ist vor allem bei Vergiftungen durch chemische Mittel der Fall. «Hat ein Kind zum Beispiel Möbelpolitur getrunken, machen wir uns auf die Suche nach den Substanzen, die sie enthält, und entscheiden dann».

Anders bei Medikamentenvergiftungen: Medikamente werden vor der Zulassung getestet, die Toxikologen wissen um ihre Bestandteile und können entsprechend schnell handeln.

Grosse Zahl an Medikamentenvergiftungen

Von den schweren Vergiftungsfällen sind 77 Prozent durch Medikamente und 12 Prozent durch Genussmittel und Drogen verursacht. Die grosse Zahl der Medikamentenvergiftungen erklärt sich durch die Einnahme von Medikamenten in suizidaler Absicht.

Bei den acht Todesfällen durch Medikamente ist auffällig, dass dreimal das rezeptfrei erhältliche Schmerzmittel Paracetamol durch eine beabsichtigte Überdosierung beteiligt war. Bei den schweren Medikamentenvergiftungen spielen die Psychopharmaka eine prominente Rolle.

Es komme aber auch häufig vor, sagt Kupferschmidt, dass Mitarbeitende von Altersheimen anrufen und fragen, was zu tun ist, wenn sie die Medikamente von Patient A aus Versehen Patient B verabreicht haben. Oft kann er beruhigen, denn ein falsch verabreichtes Blutdruckmittel wird nicht dazu führen, dass der Blutdruck zu stark sinkt. Anders bei Schlafmitteln – Überdosierungen können hier sehr schnell gefährlich werden.

Häufige Anfragen betreffen die versehentliche Einnahme von Entkalkungsmitteln oder Javelwasser. Insgesamt wurden in der Schweiz im letzten Jahr 7501 Vergiftungen durch Haushaltsprodukte verursacht. «Bei neuen Produkten, die auf den Markt kommen, müssen wir manchmal Detektivarbeit leisten, um die Inhaltsstoffe herauszufinden. Wie im Krimi», sagt Kupferschmidt.

Umfassende Datenbank mit Fallbeschreibungen

Hilfreich bei der Recherche ist eine grosse Datenbank, in der seit 1966 alle Anfragen von Ärzten und Ärztinnen an das Toxikologische Zentrum gespeichert wurden. Zu jedem Vergiftungsfall gibt es Einträge über die eingenommene Substanz, deren Zusammensetzung, die Behandlungsart und das Behandlungsresultat. «Rückmeldungen von Laien haben wir nicht in die Datenbank aufgenommen», erklärt Kupferschmidt, «denn wir wollen in unserer Datenbank nur medizinisch abgesicherte Fälle». Inzwischen sind über 900‘000 Fälle gespeichert.

Was tun, wenn die Viper beisst?

Das Toxikologische Informationszentrum ist seit 2011 ein Assoziiertes Institut der Universität Zürich, es ist an der Lehre beteiligt und in verschiedene Forschungsprojekte involviert. Kupferschmidt erteilt als Lehrbeauftragter der Medizinischen Fakultät Studierenden im Rahmen der Notfallmedizin eine Einführung in die Toxikologie. «Das ist jedoch nur ein Schnupperkurs», sagt er. «Es gibt so viele unterschiedliche Vergiftungen, da würde ich ein ganzes Semester für mein Fach benötigen.»

Bei Unsicherheiten steht praktizierenden Ärzten das STIZ zur Verfügung, deren Beratung auch häufig von Medizinern in Anspruch genommen wird. «Ein Arzt, der zum ersten Mal mit dem Biss einer Viper konfrontiert ist, gerät schnell einmal ins Schwimmen», sagt Kupferschmidt, das sei ihm auch so gegangen. Da sei es besser, sich auf die langjährige Erfahrung des Zentrums zu stützen.

Pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel untersuchen

Die Toxikologie ist innerhalb der Medizin ein Nischenbereich, sagt Kupferschmidt. Auf internationalen Kongressen kämen nur etwa 350 Experten zusammen, man kenne sich, sei deshalb auch gut vernetzt. Das STIZ ist in etwa 30 Forschungsprojekte involviert.

Eines der neuesten Forschungsprojekte, an dem Kupferschmidt auch beteiligt ist, befasst sich mit Zusätzen in pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln, wie sie häufig in Reformhäusern angeboten werden. «Diese Produkte bilden einen Riesenmarkt, vor allem in den USA sind diese angeblich gesunden Ergänzungsstoffe sehr beliebt, das schwappt jetzt auf Europa über», sagt Kupferschmidt.

Er und ein internationales Team wollen diese Produkte auf ihre gesundheitlichen Risiken hin untersuchen. Das Projekt wird im Rahmen des 7. Forschungsprogrammes der EU (FP7) finanziert. «Das wird spannend», freut sich der Toxikologe und wendet sich dem nächsten Fall zu: Eine Dreijährige hat im Garten Maiglöckchen-Blätter gegessen.

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