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Marc Chesney, akkurat in Anzug und Krawatte, das Haar fein säuberlich zurückgekämmt, vielleicht geliert. So stellt man sich einen Professor der Finanzwissenschaft vor: gepflegt und distanziert. Denn man weiss es ja aus den Lehrbüchern: Die beste aller ökonomischen Welten ist der freie Markt, der sich selbst reguliert. Das heisst: Das Klügste ist, sich gar nicht einzumischen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Der Schein trügt. Der freie Markt ist ausser Rand und Band, und mir gegenüber sitzt ein «homme engagé», der das ändern möchte.
Chesney vergleicht die Krise mit einer Pandemie. Die Finanzwissenschaftler sieht er in der Rolle von Medizinprofessoren. Während die Gesellschaft bei einer Pandemie von den Ärzten erwartet, dass sie eine aktive Rolle spielen, halten sich die Finanzprofessoren bei der aktuellen Finanzkrise sehr zurück. Das hat wahrscheinlich mit ihrem Selbstverständnis zu tun. Vor allem aber mit der Ideologie, die das ökonomische Denken auch an den Universitäten beherrscht: dem Neoliberalimus mit seinem blinden Glauben an den freien Markt. Verkörpert wird dieser durch die so genannte Chicagoer Schule. Deren berühmtester Exponent, Milton Friedman, beschrieb ihr Credo so: «Chicago steht für den Glauben an den freien Markt und die Skepsis gegenüber Eingriffen des Staates in die Wirtschaft.»
Aus dieser Perspektive ist Marc Chesney ein Häretiker, denn er hält klipp und klar fest: «Die Finanzkrise hat gezeigt, dass die Annahme, die Märkte seien effizient und regulierten sich selbst, falsch ist.» Das grundsätzliche Problem sei, so Chesney, dass das heutige Finanzsystem eines der Grundprinzipien des Kapitalismus nicht mehr respektiere: «Wer Risiken eingeht, sollte sie auch selber tragen. Doch für die Risiken, die Investmentbanken oder Hedge Fonds in den vergangenen Jahren eingegangen sind, haben häufig die Steuerzahler, die Aktionäre, die Kunden und die Angestellten bezahlt. Dies widerspricht dem Geist des Kapitalismus.»
Chesney hält weiter fest: «Eigentlich sollte die Finanzindustrie der Realwirtschaft und der Gesellschaft dienen. Das bedeutet vor allem: Die Banken sollten die profitablen Investitionsprojekte der Realwirtschaft finanzieren. Da sind sie heute nicht besonders erfolgreich. Statt den Unternehmen ausreichend Kredite zu gewähren, investieren viele ihr Kapital in komplexe Finanzprodukte.»
Mit grotesken Folgen: Der Nennwert der derivativen Finanzprodukte, die weltweit gehandelt werden, entspricht mittlerweile etwa dem Zehnfachen des globalen BIP. «Das ist ungesund und vor allem: sehr gefährlich.» Für Chesney ist deshalb klar: «Es braucht neue Regulierungen.»
Dazu gehört unter anderem, dass Geschäfts- und Investmentbanken aufgeteilt werden sollten, wie es in den USA bis zum Jahr 1999 der Fall war («Glass-Steagall Act»). «Wenn die Investmentbanken im Casino spielen, dürfen sie mindestens keine öffentliche Deckung erhalten», betont Chesney. Der Fall der UBS steht hierzulande für die Konsequenzen, die das Zocken der Investmentbanker haben kann. Während die Schweiz noch glimpflich davongekommen ist, hat es andere Staaten schlimmer erwischt: Sie mussten sich noch höher verschulden, um ihre maroden Banken zu retten.
Deshalb verlangt Chesney ein radikales Umdenken. Das muss in der Wissenschaft beginnen: «Wie von Medizinprofessoren erwarten Gesellschaft und Politik von uns einen Beitrag dazu, wie die Finanzprobleme gelöst werden können.»
Der Zürcher Finance-Professor gehört zu den führenden Köpfen, die eine Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften vorantreiben. Er ist einer der Autoren und Erstunterzeichner des Aufrufs «Sustainable and Responsible Finance» (nachhaltige und verantwortungsvolle Finanzwissenschaft), der im März 2011 lanciert wurde. Darin wird die «Scheuklappenmentalität» der herrschenden Lehre in den Finanzwissenschaften angeprangert (Chicago School), die nach wie vor ein «Quasimonopol in der akademischen Welt» beanspruche.
Der Aufruf kritisiert den dogmatischen Charakter der wirtschaftwissenschaftlichen Lehre und verlangt eine neue Vielfalt des Denkens. Als Autoren zeichnen 19 Professorinnen und Professoren aus der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Spanien und Belgien. Chesney hat auch das im November 2011 publizierte «Basler Manifest zur Ökonomischen Aufklärung» mit verfasst.
Krankheit, die geheilt werden kann
Die Massnahmen, die von Chesney und seinen Kollegen vorgeschlagen werden, haben zum Ziel, die Finanzmärkte zu stabilisieren und berechenbarer zu machen. Um ihre Aufgabe im Dienst der Realwirtschaft zu erfüllen, sollte der Finanzsektor reguliert werden und weniger komplex sein. Zu diesen vorgeschlagenen Massnahmen gehören eine Transaktionssteuer, die Zertifizierung von Finanzprodukten und Boni für Controller.
«Eine Finanztransaktionssteuer von beispielsweise 0,1 Prozent würde die Spekulation eindämmen und viel Geld in die leeren Staatskassen spülen, mit dem Folgen der Finanzkrise bewältigt werden könnten», erklärt Chesney.
Die Zertifizierung von Finanzprodukten durch eine unabhängige Institution würde dazu dienen, Finanzprodukte, die schädlich sind für die Realwirtschaft und die Gesellschaft, nicht zuzulassen. Boni für Controller, die helfen, Verluste zu vermeiden, würden diese motivieren, genauer hinzuschauen und den Beruf attraktiver zu machen: «Meine Studierenden wollen alle Trader und nicht Controller werden. Als Controller gibt es keine Boni, mit denen man sich einen Porsche kaufen kann», erzählt Chesney.
Chesney will das Bewusstsein der künftigen Finanzmarktspezialisten, die an den Universitäten ausgebildet werden, schärfen: «Wir müssen die Probleme im Unterricht thematisieren», betont er. «Statt nur die positiven Aspekte der Finanzmärkte zu zeigen, sollten wir auch die negativen beleuchten. Beispielsweise werden derivative Finanzprodukte oft nur als Absicherungsinstrumente präsentiert, obwohl sie in Wirklichkeit auch Systemrisiken erzeugen.» Das Umdenken wird Zeit brauchen.
Die Chicago School ist nach wie vor übermächtig, und sie dominiert auch die A-Journals, die tonangebenden wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften, in denen publizieren muss, wer Karriere machen will. Für Chesney wäre es deshalb wichtig, eine neue Zeitschrift zu gründen, in der auch andere Ideen Platz haben. Deren Erfolg wird davon abhängen, ob sie von der Wissenschaft und der Politik anerkannt wird: «Wenn bei Berufungen auch in Zukunft nur auf Publikationen in den herkömmlichen Journals geschaut wird, lohnt sich der Aufwand nicht.»
Gerade für junge Ökonomen sei es schwierig, sich gegen den Mainstream zu stellen, sagt Chesney: «Sie brauchen die Publikationen in den wichtigen Journals für ihre Karriere.»
Er selber will sich weiter exponieren. Wenn möglich noch in diesem Jahr wollen Chesney uns seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter einen Aktionsplan präsentieren, der aufzeigt, wie die Finanzindustrie reguliert werden soll. Seine Forschung wird der Finance-Professor auch in diese Richtung orientieren. «Das wird es mir nicht erleichtern, in bestimmten Journals zu publizieren», sagt er.
«Wenn mir meine Kinder dereinst Fragen zur Lage der Welt und die Verantwortung unserer Generationen stellen sollten, möchte ich ihnen sagen können, dass ich nicht im Elfenbeinturm geblieben bin und dass mein berufliches Ziel nicht nur auf die Publikationen in wissenschaftlichen Journals begrenzt war.» Chesney lacht: «Ich möchte sagen können: Ich habe versucht, etwas zu verändern.» Ob es gelingt, wird sich zeigen.