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China gilt mit seinem wirtschaftlichen Boom heute als eines der dynamischsten Länder der Welt. Das sei ein neues Bild, sagte Helwig Schmidt-Glintzer, Sinologe an der Universität Göttingen, in seinem Gastreferat Mitte November im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Weiterbildungsstudiengangs Applied History. In den letzten Jahrhunderten hätten der Westen wie auch China selbst vor allem die Kontinuität des Landes betont. Das treffe in Tat und Wahrheit allerdings nur begrenzt zu. «China hat in seiner Geschichte viele Brüche erlebt», betonte Schmidt-Glintzer. So war etwa nach dem Zusammenbruch der Mongolenherrschaft im 14. Jahrhundert völlig offen, ob überhaupt wieder ein chinesisches Reich entstehen würde.
Doch in der folgenden Ming-Dynastie (1368-1644) erfand sich das Land neu. China schuf ein Rechtssystem, welches dazu beitrug, dass das Reich über ein halbes Jahrtausend bestehen konnte. Ab 1644 erreichte es unter der Mandschurenherrschaft eine territorial bisher nicht gekannte Ausdehnung. «China war in der Folge bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus allen anderen Reichen der Welt kulturell und teilweise auch technologisch überlegen», so Schmidt-Glintzer.
Kein Wunder, erfreute sich China im 17. Jahrhundert in Europa höchster Wertschätzung – um danach wie alle Länder Asiens, Lateinamerikas und Afrikas herabgewürdigt zu werden. Vorerst aber sollte das positive Bild, welches sich der Westen von China gebildet hatte, auch für die Chinesen selber bestimmend werden. «Sie interessierten sich so sehr für die europäische Wahrnehmung, dass sie ihre eigene Geschichte bisweilen nur noch in der Version kannten, wie die Europäer sie ihnen erzählten», so Schmidt-Glintzer.
Die europäischen Berichte über Reisen durch das Mandschurenreich voller Palastanlagen und einer modernen bürokratischen Verwaltung beeinflussten im 18. Jahrhundert das chinesische Selbstbild massgeblich.
Gleichzeitig war das Selbstbild der Chinesen ambivalent: Einerseits sahen sie sich als Mittelpunkt der Welt, an dessen Rändern nur Barbaren leben. Andererseits gab es aber neben dem Bild vom «Reich der Mitte» auch die Vorstellung von China als einem Land unter vielen.
Ab dem 19. Jahrhundert fühlte sich China vom westlichen «Modernisierungsmodell» herausgefordert. Die Chinesen unterschieden dabei Europa kaum von den Vereinigten Staaten von Amerika und nahmen eher den «Westen» als Einheit wahr.
Das Modernisierungsvorbild des Westens bleibt zwar bis heute für China massgeblich. Gleichzeitig stellt Schmidt-Glintzer aber ein wachsendes Selbstbewusstsein der Chinesinnen und Chinesen fest. Sie sprächen immer differenzierter darüber, was Chinas Identität ausmache.
Für Europa gelte es, China weniger als Einheit, sondern als Land mit regionalen Eigenheiten wahrzunehmen, auch weil in China selbst die regionalen Besonderheiten und Interessen eine zunehmende Rolle spielen, sagte Schmidt-Glintzer. Eine Betrachtung, die er auch für Europa forderte – jenseits der «fatalen Vorstellung eines einheitlichen Europas».
Die Parallelen und Sonderwege der Entwicklungen in China und Europa seien noch wenig erforscht. Insbesondere gelte es, die strukturellen Bedingungen wie das Bildungswesen oder die Entwicklung der Städte genauer zu untersuchen.