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Neue Ausstellung im Völkerkundemuseum

Bildersängers Geschichten

Noch heute gibt es in Indien Menschen, die von der einst weitverbreiteten Kunst des Bildgesangs leben. Eine Auswahl der farbenprächtigen und motivreichen Bilderrollen, die dabei zum Einsatz kommen, ist gegenwärtig am Völkerkundemuseum der Universität Zürich zu sehen.
David Werner
Hypnotischer Blick aus dem Jenseits: indischer Totengott.

Ein Totengott breitet seine Arme aus, eine überfüllte Strassenbahn mit schreienden Babys und weinenden Müttern rumpelt durch Kalkutta, und auf dem untergehenden Passagierschiff «Titanic» kostet ein Liebespaar seine letzten gemeinsamen Minuten aus. Die indischen Bilderrollen, die zur Zeit in einer Sonderausstellung im Völkerkundemuseum gezeigt werden, bieten Emotionen, Farbe, Drama – kurz: ganz grosses Kino.

Mythen Indiens

Dabei sind die Mittel dieser Volkskunst ganz bescheiden: Fahrende Künstler spulen vor kleinem Publikum gemalte Bilderfolgen ab und tragen dazu singend den Text vor. Seit mehr als zweitausend Jahren wird das so gemacht. Vor einigen Jahren jedoch ist Bewegung in die Bilderrollen-Kunst gekommen.

Traditionellerweise waren es stets Geschichten von der Erschaffung der Welt, dem Wirken der Götter und dem Schicksal der Helden, um die sich die Bilderrollen-Kunst  drehte. Sie reproduzierte die Mythen, die durch die Jahrhunderte hindurch den ethnisch und sprachlich so vielfältigen indischen Subkontinent kulturell zusammenkitteten. Dank der Bildersänger konnte auch die meist nicht schriftkundige Landbevölkerung an den grossen Überlieferungen teilhaben.

Bis nach Japan und Bali

Der Bildrollen-Gesang war die längste Zeit populär und weit verbreitet, von Indien her fand er den Weg bis nach Japan und Bali. Soziale Umwälzungen und der Siegeszug neuer Medien brachten die Kunstform jedoch in den letzten Jahrzehnten in grosse Bedrängnis. Gegen «Bollywood» kamen die Bildrollen-Sänger nicht an.

Ganz verschwunden aber ist der Bildgesang nicht. Im bengalisch geprägten Osten Indiens sind in unmittelbarer Nachbarschaft gleich zwei Bildrollen-Traditionen erhalten geblieben. Patua nennt sich die eine, Jadopatia die andere. Interessant dabei: Beide Traditionen entwickelten sich, obgleich eng miteinander verwandt, in jüngster Zeit stark auseinander.

Aids, Frauenrechte, Umweltzerstörung

Die Vertreter der Patua schlugen den Weg der Erneuerung ein. Ende der Neunzigerjahre begannen sie plötzlich, das überlieferte Repertoire an Maltechniken und Bildinhalten zu sprengen. Statt der alten Götter brachten sie nun ganz persönliche Erlebnisse zur Darstellung, oder sie knüpften an aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie Frauenrechte, Aids oder Umweltzerstörung an. Sie fanden zu ganz unverwechselbaren individuellen Handschriften.

Blinde Seelen sehend machen

Ganz anders die Vertreter der Jadopatia-Tradition. Sie bleiben der Tradition verhaftet. Bei ihren Vorträgen konzentrieren sie sich ganz auf das Totenritual. Ihre Aufgabe ist es, mit ihren Bildrollen den zunächst blind umhergeisternden Seelen frisch Verstorbener das Augenlicht zu schenken und ihnen so den Übergang in eine neue Existenzform zu ermöglichen.

Noch heute werden die Vertreter der Jadopatia-Tradition zu Totenritualen bestellt, doch meist nur noch aus Gründen der Nostalgie. Ihren einstigen spirituellen Status haben sie weitgehend eingebüsst: Erhielten sie früher einen Priesterlohn, ist es heute nur noch ein Almosen. Die Tradition der Jadopatia scheint kurz vor dem Ende zu stehen.

Auf der Suche nach Kunden

Der Kontrast zwischen den konservativen Jadopatia und den experimentierfreudigen, geschäftstüchtigen Patua, die als Hausierer und Händler stets auf der Suche nach kaufwilligen Kunden sind und denen es immer wieder gelingt, Aufmerksamkeit zu wecken, könnte kaum grösser sein. Die Ausstellung «Rollenspiel und Bildgesang» im Völkerkundemuseum veranschaulicht diesen Gegensatz. Sie zeigt, wie unterschiedlich sich ein und dieselbe Kunstform unter dem Druck gesellschaftlicher Umwälzungen entwickeln kann.

Zufällige Begegnung in Kalkutta

Grundlage der Ausstellung ist die einzigartige Bilderrollen-Sammlung, die Museumsmitarbeiter Thomas Kaiser zusammen mit dem Zürcher Fotografen Samuel Schütz seit den Neunzigerjahren aufgebaut hat. Eine zufällige Begegnung an der Buchmesse von Kalkutta mit einem Verkäufer, der in einem versteckten Winkel Bilderrollen anbot, stand am Anfang dieser Sammlung.

Jahr für Jahr reisten Kaiser und Schütz daraufhin nach Indien, machten Video-Aufzeichnungen von Bildgesängen, fertigten zusammen mit indischen Experten Übersetzungen und Transkriptionen an – und legten damit wichtige Grundlagen zur Erforschung einer faszinierenden Kunstform, deren weiteres Schicksal noch ganz offen zu sein scheint.

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