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Angefangen hat es bei Nadine mit einem Taubheitsgefühl in der rechten Wade. Innerhalb weniger Tage hatte sich dieses Gefühl auf das ganze Bein ausgedehnt. Die Spitzenfussballerin konsultierte deswegen ihren Hausarzt. Danach ging alles recht schnell: Einweisung ins Universitätsspital Zürich, verschiedene Untersuchungen, unter anderem eine Lumbalpunktion und eine Magnetresonanztomografie. Schon bald stand die Diagnose Multiple Sklerose (MS) fest. Um den akuten Entzündungsprozess so rasch wie möglich zu stoppen, erhielt die Patientin Cortison- Infusionen. Zeitweise spürte sie ihre rechte Körperhälfte bis zur Schulter nicht mehr, und es kamen Sehstörungen hinzu. Innerhalb kurzer Zeit hatte Nadine drei heftige MS-Schübe.
Glücklicherweise bildeten sich die Symptome wieder zurück. Der Krankheitsverlauf konnte mit einem Medikament stabilisiert werden, das verhindert, dass Immunzellen die Blut-Hirn-Schranke passieren. Seit dem letzten Schub sind nun gut zwei Jahre vergangen, und die heute 30-jährige Frau hofft, dass ihr die Medikamente so lange wie möglich ein normales, beschwerdefreies Leben erlauben. «Ihre Chancen stehen gut. Dank neuen medikamentösen Therapien sind dramatisch verlaufende MS-Fälle mit schweren Behinderungen zum Glück inzwischen die Ausnahme geworden », sagt Roland Martin, Professor für Neurologie am Universitätsspital Zürich. Zusammen mit deutschen Forscherkollegen testet der Neuroimmunologe gegenwärtig ein neues Verfahren, um das fehlgesteuerte Immunsystem wieder ins Lot zu bringen.
MS ist die häufigste Erkrankung des Nervensystems bei jungen Erwachsenen in Mittel- und Nordeuropa. Allein in der Schweiz gibt es rund 10 000 MS-Patienten. Die Krankheit tritt meist zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr auf, Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. In einer grossen internationalen Studie, an der auch Roland Martin beteiligt war, konnten die Forscher mehr als 50 Gene identifizieren, die MS mit verursachen. Viele dieser Gene hängen eng mit der Arbeit des Immunsystems zusammen. Gleichzeitig scheinen auch Umweltfaktoren, etwa bestimmte Viren- und Bakterienbesiedelung, eine Rolle zu spielen.
MS entsteht, weil Gewebe des zentralen Nervensystems – das heisst Gehirn und Rückenmark – von körpereigenen Abwehrzellen attackiert werden. MS ist also eine so genannte Autoimmunerkrankung. Die fehlgesteuerten Zellen des Immunsystems schädigen die Myelinschicht, die als Isolationsschicht die Fortsätze der Nervenzellen umhüllt. Dadurch wird die Reizleitung gestört. Noch viel gravierender ist aber, dass häufig nicht nur die Isolationsschicht zerstört wird, sondern gleich auch noch die Nervenfortsätze. Da solche Entzündungsherde überall im Zentralnervensystem vorkommen können, kann MS fast jedes neurologische Symptom verursachen.
Roland Martin, der nach jahrzehntelangen Forschungstätigkeiten in den USA und Deutschland vor anderthalb Jahren ans Universitätsspital Zürich berufen worden ist, testet zusammen mit deutschen Forscherkollegen nun ein neues Verfahren, um das Immunsystem von MS-Patienten wieder auf den richtigen Weg zu bringen. In aufwendigen Vorstudien gelang es seiner Forschungsgruppe, einzelne Proteinstrukturen an der Oberfläche der Nervenzellen zu identifizieren, die Zielregionen für fehlgeleitete Immunzellen sind.
Beim neuen Therapiekonzept markieren die Mediziner weisse Blutkörperchen, die sie aus dem Blut von MS-Patienten gewonnen haben, mit genau diesen Proteinstrukturen. Die markierten Immunzellen werden dann noch mit einer chemischen Substanz fixiert, so dass die Proteine wirklich auf der Zelloberfläche «festgeklebt» sind. Anschliessend werden die so modifizierten Immunzellen wieder zurück in den Blutkreislauf des Patienten gespritzt. Innerhalb kurzer Zeit sterben diese Zellen im Körper ab.
Hinter diesem neuen Therapieansatz steckt die Idee, den natürlichen Zelltod, in der Fachsprache Apoptose genannt, für die Ruhigstellung des Immunsystems zu nutzen. Denn das Immunsystem greift eigene, absterbende Zellen nicht an. Und indem die absterbenden Zellen mit den Zielproteinen aus dem zentralen Nervensystem markiert wurden, versuchen die Forscher dem Immunsystem beizubringen, diese Proteinstrukturen wieder in einem «friedlichen» Kontext kennenzulernen. «So soll das Immunsystem aufhören, das Nervengewebe zu bekämpfen, und wieder in jenen Zustand zurückversetzt werden, wo es das Gehirn in Ruhe lässt», erklärt Roland Martin.
Im Tiermodell reicht eine Behandlung, dann werden die Tiere nicht mehr krank. Beim Menschen hoffen die Forscher, dass die Wirkung mindestens ein Jahr lang anhält. Ob das neue Verfahren aber bei MS-Patienten wirklich funktioniert, lässt sich noch nicht sagen. Erste Prüfungen zeigten aber, dass die Patienten das Verfahren gut vertragen und es wie gewünscht wirkt. «Wenn die Methode funktioniert, könnte sie auch bei anderen Autoimmunerkrankungen wie zum Beispiel Diabetes Typ 1 oder Morbus Crohn angewendet werden», sagt Roland Martin.
Erfreulicherweise tut sich also einiges an der Forschungsfront. Trotzdem ist MS bis heute nicht heilbar. In den letzten zehn Jahren ist es den Forschern aber gelungen, mit verschiedenen neuen Medikamenten die Häufigkeit und Schwere der Schübe günstig zu beeinflussen. Zwar heilen die Entzündungen im Nervengewebe in der Regel wieder ab und die Myelinschicht kann sich wieder regenerieren. Doch selten wird die ursprüngliche Qualität erreicht, so dass die Nervenreizleitung beeinträchtigt bleibt. «Mit einer Behandlung sollte deshalb möglichst früh nach der Diagnose begonnen werden», sind sich die Fachleute einig.