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Vortragsreihe über Max Frisch

«Von Vaterkomplexen bis Vatermordgedanken»

Kein schriftstellerisches Werk hat das Bild der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert stärker geprägt als dasjenige von Max Frisch, der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag hätte feiern können. Das Deutsche Seminar organisiert eine Vortragsreihe, um neue Seiten am literarischen Übervater hervorzukehren. Die Germanisten Ursula Amrein, Thomas Strässle und Karl Wagner erzählen, was sie an Frisch fasziniert.
Moderation: Marita Fuchs und David Werner

Herr Wagner, nach welchen Kriterien haben Sie die Vortragsreihe über Max Frisch zusammengestellt?

Karl Wagner: Wir, Wolfram Groddeck und ich, wollen neue Facetten des vielgestaltigen Werks sichtbar werden lassen, und damit verhindern, dass Max Frisch – wie in seinem berühmten Satz über Brecht – der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers anheimfällt.

Max Frisch: «Es gibt viele Verkrustungen um die Figur von Max Frisch.»

Thomas Strässle : Das Werk ist viel reichhaltiger als die Marke Frisch. Klassische Topoi wie zum Beispiel die Aussage «Bei Frisch geht es um die Frage der Identität» werden häufig gebetsmühlenartig wiederholt und werden dem Schriftsteller nicht gerecht.

Ursula Amrein : Die Vortragsreihe stellt Themen in den Mittelpunkt, die Frisch in einem weniger bekannten Kontext zeigen: Max Frisch als Redner, als Architekt oder sein Verhältnis zum Schauspielhaus Zürich.

Wie wichtig war dieses Schauspielhaus, das in den Dreissiger- und Vierzigerjahren dank seinem Emigranten-Ensemble zu einer Bühne mit Weltformat geworden war, für die schriftstellerische Entwicklung von Frisch?

Amrein : Es war ein ganz wesentlicher Faktor. Das Schauspielhaus entwickelte in der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich eine Ästhetik, für die es den Begriff «Humanistischer Realismus» prägte. Frisch bezieht sich auf diese Ästhetik sowohl in seinem Schreiben als auch in seinem Selbstverständnis als Autor. Sie beruht auf Prämissen, die ihrerseits auf Schiller verweisen. Dieser forderte von der Literatur Distanz zur Tagespolitik, schrieb ihr die Aufgabe zu, Bilder eines anderen Lebens zu entwerfen und über diesen Umweg auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einzuwirken.

Ursula Amrein: «Wir sollten Frisch nicht nur als Einzelphänomen betrachten.»

Das erste Stück, das Frisch am Schauspielhaus uraufführen konnte, war «Nun singen sie wieder». Es ist 1945 der Versuch, aus der Perspektive der Distanz das Geschehen in Deutschland zu kommentieren. Durch diese Auseinandersetzung hat Frisch sich als Schweizer Autor positioniert und auch legitimiert.

Strässle : Diese Thematik taucht im ersten Tagebuch wieder auf. Frisch entwirft darin in drei Anläufen einen Brief an einen Soldaten, der an der Ostfront im Einsatz war. Er rechtfertigt sich als Angehöriger einer sogenannt verschonten Nation. Es ist der Versuch, eine Perspektive aus der Schweiz nach 1945 zu entwickeln. Frisch fragt sich: Wie kann man als ein von der Geschichte Verschonter überhaupt Literatur schreiben?

War Frisch der letzte Grossintellektuelle der Schweiz? Und falls ja, wie kam er zu dieser Rolle?

Wagner: Frischs Ruf als Dramatiker von Weltrang war Ende der Fünfzigerjahre etabliert. Die Achtung, die ihm im Ausland entgegengebracht wurde, begründete seine Autorität im Inland.

Strässle : Die Ringvorlesung sollte auch ein Anlass sein, gewisse Mythen, die um Frisch herum gesponnen werden, auszuleuchten. Ich gehöre einer Generation an, die Frisch als Schullektüre und also schon aus einiger Distanz kennengelernt hat. Die Generation meiner Eltern hat ein weniger entspanntes Verhältnis zu Frisch. Für sie war er immer eine sehr dominante Figur.

Es gibt viele Verkrustungen um die Figur Frisch. Die Spannweite reicht von massiver Ablehnung bis zu grosser Bewunderung, von Vaterkomplexen bis zu Vatermordgedanken, von der Brandmarkung Frischs als Antifeminist bis zur Verherrlichung als politischer Autor.

Wie kam es zu dieser Mythenbildung?

Strässle : Frisch fand ja ein grosses gesellschaftliches Echo. Er ist bis heute der Inbegriff eines Autors, der sich einmischt und gehört wird. Immer noch werden Schriftsteller mit der Figur Frisch verglichen, vor allem wenn es um politische Interventionen geht. Damit wird Frisch für die jüngere Schriftstellergeneration zu einer Art Belastung. Frisch war natürlich für Autoren wie Peter Bichsel oder Adolf Muschg eine Vaterfigur, heute jedoch ist eine andere Generation herangewachsen.

Karl Wagner: «Wichtig ist die Entformelung des Sprechens über Frisch.»

Wagner: Im dritten Tagebuch von Frisch, das Peter von Matt kürzlich veröffentlicht hat, gibt es sehr skeptische, ja ablehnende Bemerkungen zu der Rolle des totalen Intellektuellen. Ich denke, diese Rolle ist heute tatsächlich nicht mehr zu erfüllen. Junge Autorinnen und Autoren wehren sich zu Recht gegen dieses historische Format. Zugleich gibt es natürlich auch eine Sehnsucht danach.

War Frisch ein «Macho»?

Amrein : Das ist schwierig zu sagen. Oft wird die Grenze zwischen Werk und Person verwischt. Um die komplizierten Geschlechterinszenierungen bei Frisch zu verstehen, muss man sich auf seine narrativen Konstruktionen einlassen, und dies wiederum verlangt nach literaturwissenschaftlicher Kompetenz. Oft umgeht man diese Schwierigkeit und entsorgt Frischs Blick auf die Frau als privates Problem des Schriftstellers.

Was mir jedoch auffällt und was mich irritiert, ist, dass er zum Beispiel in «Montauk» vordergründig einen sehr aufgeklärten Diskurs über das Geschlechterverhältnis führt und seinen Ort als Mann reflektiert. Dahinter stehen jedoch stereotype Bilder von der Geliebten oder – das Gegenmodell – der Ehefrau, die für das Erstarrte steht.

In den «Entwürfen zu einem dritten Tagebuch» schreibt Frisch zum Beispiel: «Hänge ich am Leben? Ich hänge an einer Frau. Ist das genug?» Darin steckt viel Selbstreflexion. Zugleich aber macht er die Frau so zur Metapher für das Leben schlechthin. Es sind solche Ambivalenzen, die dazu führen, dass Frauen oft mit Distanz auf das Werk von Frisch reagieren.

Man sagt, die Textgattung «Tagebuch» sei die typischste für Frisch. Sehen Sie das auch so?

Strässle : Die Tagebücher von Frisch sind sehr heterogen. Die Machart der beiden ersten Tagebücher ist jeweils anders, und das dritte Tagebuch ist wieder ganz anders. Ausserdem muss man auch die «Blätter aus dem Brotsack» und das «Dienstbüchlein» zu den Tagebüchern zählen, in nicht allzu ferner Zukunft wohl auch das «Berliner Journal» ...

Wagner: ... und es gibt eingebettete Tagebuchfiktionen in den anderen Werken von Frisch.

Thomas Strässle: «Es gibt viele Verkrustungen um die Figur Frisch.»

Strässle : In den Tagebüchern sind wichtige Stoffe schon angelegt, die dann später in den Werken wieder aufgegriffen werden. Zum Beispiel «Der andorranische Jude», die «Burleske» oder «Graf Öderland». Die Tagebücher sind unendlich polyphon.

Wie stehen Sie zum Veröffentlichungsstreit des dritten Tagebuchs?

Strässle : Das war ein stiftungsratsinterner Zank, der journalistisch hochgekocht wurde. Aber er zeigt, wie hart umkämpft Frisch weiterhin ist.

Wagner: Der Streit hat bedauerlicherweise den Blick auf den Text verstellt.

Strässle : Und doch ist dieses Tagebuch zugleich von einer berührenden Aufrichtigkeit: Zum Beispiel Frischs Reflexionen über das Altern, das Hadern mit seiner schöpferischen Impotenz oder sein Bedauern darüber, dass nicht «Der Mensch erscheint im Holozän», sondern der «Blaubart» sein letztes Buch geworden ist.

Was können wir neu an Frisch entdecken?

Wagner: Wichtig ist die Entformelung des Sprechens über Frisch, wie wir es eingangs schon erwähnten. Man sollte auch die Dialektik von angeblich peripheren Werken, wie dem Frühwerk, bedenken und die Zentralwerke neu lesen. Die Auseinandersetzung mit der Gattungsvielfalt bei Frisch ist ebenfalls ein interessanter Aspekt dieses Schriftstellers. In der Ringvorlesung wollen wir diese neuen Aspekte ansprechen.

Amrein : Wir sollten Frisch nicht nur als Einzelphänomen beleuchten. Die wissenschaftliche Diskussion über den Schreibort Schweiz ist mir wichtig. Dieses Feld sollte man systematischer bearbeiten.