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Herzlichen Glückwunsch, letzte Woche sind Sie als Nachfolgerin von Giorgio Malinverni zur Richterin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gewählt worden. Auf welche Herausforderungen sind Sie besonders neugierig?
Wie bei jedem Beruf wird es Dinge geben, die nicht so spannend sind – zum Beispiel die Erledigung von Routinefällen. Ich freue mich aber auf die juristisch schwierigen Fälle, in denen ich dazu beitragen möchte, eine überzeugende Begründung zu formulieren.
Zudem bin ich auf den Dialog mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa gespannt. Ich bin sicher, dass die unterschiedlichen Rechtskulturen am Gerichtshof spürbar sein werden. Die Auseinandersetzung mit anderen Rechtstraditionen und Wertungen inspirieren mich immer.
Sie werden die Schweiz für die nächsten neun Jahre in Strassburg vertreten und bei allen Fällen dabei sein, die mit der Schweiz in Verbindung stehen. Für welche Schweizer Werte wollen Sie sich künftig einsetzen?
Die Schweiz verfügt in verschiedenen Bereichen über eine hohe Menschenrechtskultur. Ich denke vorab an den politischen Dialog, der Minderheiten aller Art schützt. Dazu gehört auch ein weiser Umgang mit der Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit. Diese Grundrechte bilden keinen Freipass für Äusserungen zum Beispiel verletzender Art – aber sie bieten eine notwendige Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft. Die breite politische Partizipation ist eine wesentliche Grundlage für Verwirklichung, Konkretisierung und Weiterentwicklung der Menschenrechte.
Die politische Mehrheit kann sich aber nicht über den Schutz der Menschenrechte hinwegsetzen. Ebenso wenig ist die politische Mehrheitsmeinung eine Entschuldigung für anhaltende Menschenrechtsverletzungen. Das betont auch der Uno-Menschenrechtsausschuss immer wieder, wenn Staaten etwa an der Todesstrafe festhalten wollen – mit der Begründung, dies sei der Wille des Volkes. Das ist keine Rechtfertigung!
Welche persönlichen Ziele als Völkerrechtlerin verknüpfen Sie mit der neuen Aufgabe?
Oberstes Ziel wird es sein, die Menschenrechte zu schützen – das ist die vornehmste Aufgabe für eine Völkerrechtlerin. Eine gute Richterpersönlichkeit sollte sich meines Erachtens vor allem im Gremium für ein überzeugendes Urteil einsetzen. Anders als beim Schweizerischen Bundesgericht ist es beim Europäischen Gerichtshof ja möglich, abweichende Urteilsbegründungen unter dem eigenen Namen zu publizieren. Ich werde also versuchen, primär ein gutes Mehrheitsurteil zu erreichen und nur sekundär – wenn es nicht anders geht – selbständig eine abweichende Urteilsmeinung zu verfassen.
Schliesslich will ich mich dafür einsetzen, dass das Anliegen, die Menschenrechte zu schützen, erst genommen wird, zum Beispiel durch Weiterbildungen und Vorträge. Ich habe schon früher – etwa vor der russischen Richterakademie – gesprochen, und festgestellt, dass es hier noch beträchtlichen Aufklärungs- und Überzeugungsbedarf gibt. Meinen Anteil daran will ich gerne leisten, soweit das die Arbeit am Gerichtshof zulässt.
Die Arbeitsbelastung am EGMR ist sehr hoch. Wie lässt sich dies mit Ihrer Professur an der Universität Zürich vereinbaren? Werden Sie eine «Auszeit» nehmen?
Als Richterin werde ich nur noch in einem bescheidenen Ausmass unterrichten können. Der Gerichtshof erlaubt mir aber im Bereich der Menschenrechte zu lehren, wenn ich den Unterricht zeitlich in die Gerichtsferien lege. Viele Studierende haben ihre Glückwünsche zur Wahl mit der besorgten Frage verbunden, ob ich in meinen Lehrveranstaltungen denn weiterhin so packend von meinen Erfahrungen berichten könne. Es wird im Europäischen Gerichtshof vielleicht nicht so hektisch und dramatisch zu und her gehen, wie es manchmal im Uno-Menschenrechtsausschuss der Fall war. Aber ich bin sicher, dass es auch vom Gerichtshof spannende Begebenheiten zu erzählen gibt.
Wie sehen Sie die Zukunft des EGMR in Bezug auf das Missverhältnis zwischen eingebrachten Beschwerden und Anzahl erlediger Fälle?
Für die Überlastung des Gerichtshofes wird es keine einfache Lösung geben, und wir werden das Problem wahrscheinlich nicht während meiner Amtszeit in den Griff bekommen. Der Gerichtshof hat in den letzten fünfzehn Jahren seine Effizienz stetig gesteigert, das heisst in absoluten Zahlen werden immer mehr Beschwerden verabschiedet – etwa mit Kurzverfahren, mit gütlichen Einigungen, mit Piloturteilen et cetera. Aber es kommen immer noch sehr viele neue Anträge herein.
Am wichtigsten wird es sein, dass die Mitgliedstaaten die Menschenrechtssituation verbessern, so dass sich nicht mehr so viele Individuen an den Gerichtshof wenden müssen. Das wird aber ein längerer Prozess werden, der – noch – nicht in allen Staaten auf den nötigen politischen Goodwill stösst.