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Sie schrieben ihre Lebensgeschichte auf, schufen Stickbilder und filigrane Stoffe, erfanden Maschinen und dichteten wie Dada-Künstler. Die Insassen der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau schufen trotz Feld- und Putzarbeiten für die Anstalt nebenher künstlerische Lebenswerke. Oft mussten sie sich die Zeit dafür stehlen und das Material für ihre Werke heimlich beiseiteschaffen.
Jetzt können wir einige dieser Werke im Medizinhistorischen Museum in der neuen Sonderausstellung «Rosenstrumpf und dornencknie, Werke aus der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau 1867–1930» bewundern. Staunend blickt der Besucher auf einen filigran gearbeiteten Strumpf in der Glasvitrine. Er erinnert an moderne Textilkunst von der letzten Documenta. Geschaffen wurde er jedoch um 1902 von Lisette H. Sie arbeitete mit Varek, einem Seegras, das sie zerteilte, trocknete und dann mit Streichhölzern zu einem Strumpf zusammenstrickte. Mit derselben Technik fertigte sie andere weibliche Accessoires: Hüte, Handtaschen, Armbänder. Oder sie häkelte aus Fäden alter Putzlumpen Puppenkleider. Diese Objekte seien federleicht, erzählt die Kuratorin Katrin Luchsinger, die zusammen mit Jacqueline Fahrni die Ausstellung auf die Beine gestellt hat.
Berührend sei es, sagte Luchsinger auf der gestrigen Medienführung, dass diese Menschen so konsequent und zielstrebig an ihren Lebenswerken gearbeitet hätten, ohne je ein Feedback zu erhalten. Die Ärzte der damaligen Zeit duldeten zwar die künstlerische Arbeit, waren jedoch nicht sonderlich daran interessiert.
Besonders eindrücklich sind auch die Arbeiten von Heinrich B. Bevor er in die Rheinau kam, war der technisch interessierte Bähnler bei den Schweizerischen Bundesbahnen angestellt. In der Pflegeanstalt weigerte er sich, ohne Entlöhnung zu arbeiten, und zeichnete stattdessen unermüdlich an seinen Erfindungen. Er beschäftigte sich mit der Elektrifizierung der Eisenbahn und ersann ein System, wie man Bahnübergänge technisch sichern könnte. Ein Novum in der damaligen Zeit. Seine an die tausend Erfindungen stapelten sich unbeachtet. Nur 35 der Pläne sind erhalten geblieben.
In der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau lebten mehrheitlich chronisch psychisch Kranke aus meist ärmeren und ländlichen Verhältnissen, während in der «Irren-Anstalt» Burghölzli – 1870 in der Stadt Zürich als psychiatrische Universitätsklinik eröffnet – vor allem die akuten und als heilbar erachteten Fälle stationiert waren. In Rheinau müssen, bedingt durch die oft langen Aufenthalte der Patienten, viele Werke entstanden sein. Erhalten geblieben sind 825 von 23 Patientinnen und Patienten.
Früher zögerte die Kunstwelt, wenn es darum ging, die Werke von Aussenseitern in ihren Kanon zu integrieren. Schliesslich waren diese Malereien und Zeichnungen das Machwerk von psychisch Kranken, die in psychiatrischen Anstalten weggesperrt waren. Heute werden die Werke als Kunst betrachtet. Wie sehr der künstlerische Aspekt dieser Werke aktuell gewürdigt wird, zeigen die Stickbilder der Insassin Johanna Wintsch, deren Bilder nicht nur im Medizinhistorischen Museum zu sehen sind, sondern auch in Venedig, auf der Biennale 2011.
Die künstlerische Lesart sei nur eine von mehreren Fragestellungen, mit der man an die Objekte herangehen könne, sagte Flurin Condrau, neuer Direktor des Medizinhistorischen Instituts und Professor für Medizingeschichte. Die Werke würden viele Hinweise auf den Alltag in der Klinik geben und damit zur Patientenperspektive in der medizinhistorischen Forschung beitragen. Die moderne Patientengeschichte sei ein neuer Forschungsschwerpunkt des Instituts, deshalb interessiere er sich besonders für die Kunstwerke von Psychiatriepatientinnen und -patienten.