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Menschenrechte

«Ein Rückfall ins finstere Mittelalter»

Staaten müssen auch im Kampf gegen Terrorismus das Recht auf Leben schützen, sagt Helen Keller. Die Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich ist besorgt darüber, dass die Menschenrechte immer mehr unter die Räder geraten. «Einfach drauflosschiessen geht nicht.»
Roland Gysin

UZH News: Osama Bin Laden ist tot, erschossen von Angehörigen einer amerikanischen Spezialeinheit. Was genau passiert ist, weiss die Öffentlichkeit nicht. Dennoch: Wie präsentiert sich für die Völkerrechtlerin der juristische Sachverhalt?

Helen Keller: Es gibt zwei Ebenen: eine völkerrechtliche und eine menschenrechtliche. Völkerrechtlich muss man wohl davon ausgehen, dass Amerika die staatliche Souveränität Pakistans verletzt hat, indem keine eindeutige Einwilligung für diesen Einsatz vorlag, obwohl man diese aus der Präsenz amerikanischer Truppen im Land herleiten könnte.

Helen Keller, Professorin für Öffentliches Recht, Europarecht- und Völkerrecht: «Die Versuchung ist gross, ins Schema 'Rache vor Recht' zurückzufallen.»

Die Amerikaner argumentieren, die Tötung sei ein Akt der «nationalen Selbstverteidigung» und falle unter das Kriegsvölkerrecht.

Die Sachlage ist klar. Bin Laden hielt sich in Abbottabad auf, einer Stadt sechzig Kilometer von Islamabad entfernt. Dort herrscht kein Krieg. Wenn tatsächlich ein internationaler bewaffneter Krieg geherrscht hätte, müsste man sich fragen, ob Bin Laden ein legitimes Angriffsziel gewesen wäre. Hier stellte sich ein heikle Frage des Kriegsvölkerrechts, denn Bin Laden nahm nicht direkt an Kampfhandlungen teil.

Die zentrale Frage lautet, welches Recht ist im konkreten Fall im Kampf gegen den Terrorismus anwendbar. Das Kriegsvölkerrecht kommt nicht zur Anwendung, also gelten die Menschenrechte. Auch im Kampf gegen den Terrorismus muss ein Staat das Recht auf Leben schützen. Einfach drauflosschiessen geht nicht.

Gibt es vergleichbare Fälle?

Dieser Fall ordnet sich in eine Reihe von Fällen ein. Der Uno-Bericht über «extrajudicial, summary or arbitrary executions» vom 28. Mai 2010 führt drei Länder an: Israel, die USA und Russland, die regelmässig zu diesem Mittel greifen. Dabei geht es nicht nur um direkte Tötungen durch Kommandoeinheiten, sondern auch um Tötungen durch unbemannte Flugkörper.

Beim Einsatz dieser sogenannten Drohnen sind allfällige Verhaftungen von vornherein nicht vorgesehen. Es geht ausschliesslich darum, jemanden zu liquidieren. Dabei werden auch Tötungen von anderen Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – in der Nähe der Zielperson aufhalten, bewusst in Kauf genommen.

Dies ist aber nicht nur bei Dronen der Fall. Offenbar starben auch bei der Tötung von Bin Laden vier Menschen, über die wir kaum etwa wissen. Solche Kollektivstrafen bedeuten menschenrechtlich einen Rückfall ins finstere Mittelalter.

Rohan Gunaratna, Leiter International Center für Political Violence and Terrorism Research in Singapur, sprach im Zürcher Tages Anzeiger davon, dass bei Drohneneinsätzen der US-Streitkräfte in Pakistan «bisher Tausende von Zivilisten ums Leben kamen». Stimmt der Eindruck, dass die Regierung Obama vermehrt Drohnen einsetzt?

Ich kenne die Zahlen nicht. Ich glaube aber, dass die Militärs im Vergleich zur Bush-Ära einfach technisch bessere Drohnen besitzen und sie deshalb vermehrt einsetzen.

Man muss die Terrorismusbekämpfung heute vermehrt vor dem Hintergrund der asymmetrischen Kriegsführung sehen: Weil Terroristen sich nicht an die Menschenrechte halten, glauben Präsidenten und Militärs, sie könnten gleich handeln.

Die USA sprechen dann von rechtlosen Kämpfern, von «illegal combattants», für die weder Menschenrechte noch das Kriegsvölkerrecht gelten. Völkerrechtlich ist das ein Riesenrückschritt.

Der fünfzehnköpfige UN-Sicherheitsrat mit den ständigen Mitgliedern USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien hat den Tod Osama Bin Ladens begrüsst. Das ist aussergewöhnlich.

Rein emotional ist diese Meinungsäusserung für mich nachvollziehbar. 9/11 hat ein Trauma ausgelöst und was danach unter der Schirmherrschaft der Uno und angeregt durch die USA an Massnahmen getroffen wurde, ist beispiellos: Es reicht, dass die US-Finanzbehörden jemanden ins Visier nehmen und schon zwei Tage später sind seine Konten weltweit gesperrt. Das ist wahnsinnig. Weiterhin sind auch hunderte von Menschen mit Ausreiseverboten belegt.

Sämtliche Staaten haben diese und viele weitere Einschränkungen ihrer Freiheit geschluckt. Im Kampf gegen den Terrorismus agieren viele Politiker mit Scheuklappen. Sie fokusieren einzig das Ziel und bedenken die menschenrechtlichen Kosten nicht.

Was kann die internationale Gemeinschaft tun?

Nicht einfach nicken, sondern aufschreien. Genauso wie bei Guantanamo oder wie beim mittlerweile geschlossenen Gefängnis Abu Ghuarib im Irak.

Ist die Tötung Bin Ladens ein Freipass für andere Länder, es Amerika gleich zu tun?

Die Gefahr der Erodierung der Menschenrechte ist sehr gross. Das ist in den USA so, und das wäre auch in der Schweiz der Fall, wenn es bei uns einen grossen Terroranschlag geben würde.

Weshalb haben die Amerikaner Bin Laden liquidiert? Sie hätten ihn auch verhaften, anklagen und vor Gericht bringen können?

Die Frage ist, mit welchen Beweismitteln. 9/11 liegt zehn Jahre zurück. Die Piloten, welche die Flugzeuge gesteuert haben, sind tot.

Wahrscheinlich verfügen die Geheimdienste über genügend Beweismittel, ebenso wahrscheinlich ist aber, dass sie diese illegal gewonnen haben. Das amerikanische Rechtssystem ist da sehr strikt: Solche Beweise sind vor Gericht nicht verwertbar.

Dennoch. Ich glaube, die Beweismittel hätten ausgereicht und vielleicht hätte Bin Laden ja auch seine Verbrechen gestanden.

Ein Prozess wäre mit grossen Kosten verbunden gewesen, aber das sind die Menschenrechte immer. Es bereitet mir grosse Sorgen zu hören, solche Prozesse seien ein Leerlauf oder es bestände die Gefahr, sie könnten als Propaganda-Plattform missbraucht werden. Dieselben Argumente gab es schon bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Nazigrössen und trotzdem waren diese Prozess wichtig und richtig.

Ist die Arbeit für Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler nach 9/11 schwieriger geworden?

Als Völkerrechtlerin brauche ich generell einen starken Rücken. Für die Medien ist es nicht spannend, die tagtägliche Einhaltung des Völkerrechts zu beschreiben. Wir alle profitieren vom Völkerrecht, ohne es zu wissen. Verlieren wir einen Pass, gehen wir auf die Botschaft und erhalten einen neuen.

Wir steigen in ein Flugzeug und können sicher sein, dass internationale Sicherheitsstandards erfüllt sind. Die Welt würde ohne völkerrechtliche Normen nicht funktionieren.

Die zahlenmässig eher geringen Verstösse gegen das Völkerrecht nehmen die Medien dankbar auf. Wo es ein grosses Machtgefälle gibt, ist die Versuchung gross, ins Schema «Rache vor Recht» zurückzufallen. Und das liefert dann die Schlagzeilen.

Ex-US-Vizepräsident Dick Cheney sagt, das Aufspüren und die Liquidation von Bin Laden sei nur möglich gewesen, weil Aussagen von Häftlingen, die unter «erweiterten Verhörmethoden» gemacht wurden, verwendet wurden. Ein Freipass für Folter?

Bei dieser Aussage läuft es mir kalt den Rücken runter. Darauf gibt es nur eine Antwort. Folter darf kein Diskussionsthema sein. Folter darf unter keinen Umständen angewendet werden, nie.

Wie soll es im Fall von Osama Bin Laden weitergehen? In Israel verlangte der oberste Gerichtshof für ähnliche Fälle in einem Urteil vom Dezember 2006 zwingend jeweils eine unabhängige Untersuchung.

Navi Pillay, Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, hat diese Forderung bereits aufgestellt. Es gibt dazu eine klare Rechtsprechung: Wird einem Staat der Tod eines Menschen angelastet, ist eine unabhängige Untersuchung zwingend. Diese Forderung ist deshalb auch bei der Tötung von Bin Laden absolut gerechtfertigt.

Ich denke, dass die Amerikaner diesen Sachverhalt völlig unterschätzen. Sie zerstören bewusst Beweismittel. Sie lassen die Leiche verschwinden und informieren tröpfchenweise. Damit verletzten sie die Aufklärungspflicht.

Welches könnten die Konsequenzen sein?

Das Vorgehen wird sicher an der nächsten Sitzung des Uno-Menschenrechtsausschusses angeprangert werden. Theoretisch möglich, praktisch aber eher unwahrscheinlich ist auch, dass Pakistan sich wehrt und eine Verurteilung der Amerikaner fordert, weil sie auf ihrem Territorium gegen die Menschrechte verstossen haben.

Internationaler Standard ist, dass der betroffene Staat von sich aus, eine Untersuchung macht. Das heisst, dass die Regierung Obama aktiv wird und eine Kommission aus – idealerweise – amerikanischen und nicht-amerikanischen Juristen einsetzt, inklusive Sachverständigen aus Pakistan.