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Die Empörung, zum Beispiel in der rechtskonservativen «Schweizerzeit» oder auf der Online-Plattform «Neue Internet-Zeitung», war gross: «Wird die Scharia, bösartig gefragt, Bestandteil schweizerischen Rechts? Heil dir, Helvetia, kann man da nur noch ausrufen und hoffen, dass doch noch der Riegel gegen das nicht nachvollziehbare Urteil geschoben wird».
Die markigen Worte beziehen sich auf einen Entscheid der Schweizerischen Asylrekurskommission vom 7. März 2006. Das rechtskräftige Urteil bescheinigte einem verheirateten und in der Schweiz asylberechtigten Ägypter, seine Ehefrau dürfe in die Schweiz einreisen. Die Asylrekurskommission erachtete die nach islamischem Recht in Ägypten geschlossene Stellvertreterehe als gültig.
Fälle, in denen ausländisches Recht angewendet wird, kommen in der Schweiz eher selten vor, weil das internationale Privatrecht der Schweiz meist den Wohnsitz der Menschen als Anknüpfungspunkt für das anwendbare Familienrecht nimmt. Anders in Deutschland. Dort kommt ausländisches Recht aufgrund der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit viel häufiger zur Anwendung. Entscheide, wie derjenige der Asylrekurskommission seien dennoch Ausdruck für das Spannungsfeld, in dem das Familienrecht heute stehe, sagt Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich.
Dieses Spannungsfeld war auch Thema ihres Eintrittsreferats an einer Tagung über die religiös-kulturelle Varianz des Familien- und Erbrechts, die am Samstag an der Universität Zürich stattfand. Gerade das Familienrecht werde als kulturell ausgerichtet und besonders identitätsstiftend empfunden, so Büchler. Die Frage sei, ob das Schweizer Familienrecht auch uns fremde Rechtsvorstellungen und Rechtspraxen integrieren könne, um damit der Pluralität in der Gesellschaft gerecht zu werden.
Der Erlanger Rechtsprofessor und Islamwissenschaftler Mathias Rohe führte am Beispiel der Polygamie die Problematik im Detail aus: Das Gastland will einerseits fremde Kulturen achten und sich nicht in Gebräuche einmischen; andererseits gibt es Gesetze, die für alle gelten.
Wie soll man also den Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz mit dem Wunsch nach multikultureller Liberalität und Vielfalt vereinbaren? In Deutschland sei Polygamie verboten, doch werde die Vielehe bei Muslimen – zwar nicht mehr so oft wie früher – weiterhin praktiziert. Und so ergeben sich Konflikte, wenn ein polygamer Muslim nach Europa einwandert.
Die Zweit- oder Drittfrauen hätten zum Zeitpunkt der Eheschliessung darauf vertraut, zu ihrem Ehemann zu gehören und ihren Lebensplan darauf ausgerichtet. Sie haben sich darauf verlassen, dass sie die gleichen Rechte auf Unterhalt und Erbe hätten wie die Erstfrau. «Mit welchem Recht kann man den Zweit- und Drittfrauen das Recht auf Einwanderung, Unterhalt und Erbe verweigern, sobald sie in einem anderen Kulturkreis leben?», fragte Rohe. Seine Antwort: Hier müsse der Schutz des Individuums vor dem Verbot der Polygamie stehen.
Einfach ist das nicht. Letztlich müsse man genau hinschauen und weise entscheiden. Kulturelle Sensibilität sei eine wünschenswerte Eigenschaft in einer de facto multikulturellen Gesellschaft. Jedoch könne nicht jedes Recht unreflektiert übernommen werden. Die Anwendung fremden Rechts sollte die Ausnahme sein, um den Frieden in der Gesellschaft zu wahren.
Dass Kultur auch zur Ausrede für Diskriminierung werden könne, verdeutlichte Rohe anhand eines Frankfurter Gerichtsentscheids aus dem Jahr 2007, der auch medial grosse Wellen geworfen habe. Der «Spiegel» titelte damals: «Haben wir schon die Scharia?».
Richterin Christa D. hatte einer 26-jährigen marokkanischstämmigen Deutschen die vorzeitige Scheidung von ihrem gewalttätigen Mann verweigert, weil sie im «marokkanischen Kulturkreis» aufgewachsen sei und also damit rechnen müsse, dass der Mann sein im Koran verbrieftes Züchtigungsrecht auch ausübe. Die Drohungen des Ehemannes stellten keine «unzumutbare Härte» dar, die eine sofortige Auflösung der Ehe rechtfertige. Die Richterin wollte das in Deutschland übliche Trennungsjahr unbedingt für die Marokkanerin durchsetzen.
Die Selbstkorrektur des deutschen Justizsystems habe zum Glück schnell funktioniert, führte Rohe aus. Die Richterin sei wegen Befangenheit abgezogen worden. Hätte sie marokkanisches Recht angewandt, wäre die Frau sofort geschieden worden, denn nach marokkanischem Rechtsverständnis darf der Mann seiner Frau keinen Schaden zufügen.
Erfolgsrezept eines demokratischen Rechtsstaats sei es, so Rohe abschliessend, «die Rechte der Minderheiten in der Alltagspraxis erlebbar zu machen». Amtsträger müssten geschult werden, damit sie sich eine Vorstellung davon machen könnten, mit welchen kulturell bedingten Vorstellungen und Meinungen Einwanderer in das Gastland kommen.
Die säkularen Gesellschaften müssten sich fragen, was Menschen zusammenführt und was sie trennt. Es gehe darum auszuhandeln, wie viel Pluralität wir haben wollen. «Pluralität bringt uns weiter. Unsere europäischen Rechtsordnungen sind erfolgreich, man muss sie nur neu justieren.»