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Herr Glauser, welches ist ihr persönlicher Favorit unter den isländischen Autorinnen und Autoren ?
Jürg Glauser: Natürlich Halldór Laxness (1902–1998), der Nobelpreisträger und grosse Übervater der modernen isländischen Literatur. An ihm kommt keiner vorbei. Die jüngeren isländischen Autorinnen und Autoren reiben sich bis heute an ihm. Er arbeitete in grossangelegten Romanwerken wie «Sein eigener Herr» (1934–36) die Sozialgeschichte Islands auf. Sein Roman «Atomstation» (1948) richtete sich gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in Island. Mein Favorit unter seinen Büchern ist «Am Gletscher» (1968), eine faszinierende Studie über das Erzählen.
Welche zeitgenössischen Autoren empfehlen Sie?
Ein sicherer Wert ist Steinunn Sigurðardóttir (61). In ihren Büchern geht es viel um Liebe, um Erotik und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Empfehlen würde ich ihren Roman «Der Zeitdieb». Er handelt von den Spuren, welche eine flüchtige Sommeraffäre im Leben einer Frau hinterlässt. Unter den jungen Autorinnen und Autoren finde ich Guðrún Eva Mínervudóttir (35) besonders interessant. Sie hat bereits fünf Romane geschrieben, ihre Geschichten sind voller skurriler, einfallsreich gezeichneter Figuren. Ihr neuester Roman «Der Schöpfer» beispielsweise handelt von einem Sexpuppenhersteller.
Grosse Erfolge in Island feiert zur Zeit auch der soeben ins Deutsche übersetzte Roman «Frauen» von Steinar Bragi (36), in dem es um die Vermarktung des weiblichen Körpers in der Gegenwartskunst geht.
Diesen Herbst erscheinen rund zweihundert Bücher isländischer Autorinnen und Autoren in deutscher Übersetzung. Wie konnte in einem Land, das mit einer Bevölkerung von gut 300’000 Menschen nicht einmal soviel Einwohner zählt wie der Kanton Luzern, eine derart vitale Literaturszene entstehen?
Die Dynamik der isländischen Literaturszene ist in der Tat erstaunlich. Es gibt in Island rund 70 Autorinnen und Autoren, die allein von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit leben können. Der Stellenwert der Literatur ist in Island unvergleichlich hoch. Und das schon seit Jahrhunderten. Das liegt wohl an der Isolation und der ländlichen Prägung der Insel. Bis vor einigen Jahrzehnten fehlte ein richtiges städtisches Zentrum, in dem andere Kunstformen sich hätten entfalten können, und so konzentrierte sich ein Grossteil der kulturellen Aktivität auf die Literatur. In den letzten Jahrzehnten ist zwar auch die isländische Gesellschaft urban geworden und es ist eine bunte Musik- und eine Filmszene entstanden. Die Literatur geniesst aber nach wie vor ein ausserordentliches Ansehen.
Wie funktioniert der isländische Literaturbetrieb? Was unterscheidet ihn von demjenigen in anderen nordischen Ländern?
Es gibt keine grossen Verlage. Alle machen alles, und jeder kennt jeden. Die Grenzen zwischen Buch und anderen Medien sind fliessend. Viele Autorinnen und Autoren sind auch journalistisch tätig.
Hat die Literatur in Island angesichts dieser übersichtlichen Verhältnisse auch politisch mehr Gewicht als anderswo?
Ja. Die Autorinnen und Autoren stehen gesellschaftlich stark in der Verantwortung. Bei den Protesten zur Zeit der Finanzkrise agierten Autoren wie Einar Már Guðmundsson (57) an vorderster Front. Seinen Essay «Wie man ein Land in den Abgrund führt» kann ich nur empfehlen.
Gibt es typische stilistische Merkmale der isländischen Literatur?
Typisch ist die oft ungehemmte Erzählfreude. Die moderne isländische Literatur hat zwar längst die Themen des modernen städtischen Lebens für sich entdeckt, sie schreckt aber nicht vor traditionellen narrativen Formen zurück, greift gern auch zu magisch-phantastischen Motiven. Und kommt dadurch oft auch bei einem breiteren Publikum gut an.
Welche Rolle spielen die Sagas im heutigen Island?
Eine grosse Rolle. Jeder kennt sie. Bis heute ist die isländische Identität eng damit verknüpft. Auch die zeitgenössischen Autorinnen und Autoren greifen, wie Halldór Laxness, immer wieder auf die Heldenepen zurück. Überhaupt fällt bei der isländischen Literatur die Selbstbezüglichkeit auf: Isländische Autorinnen und Autoren lieben es, in ihren Büchern aufeinander anzuspielen.
Erschwert das für aussenstehende Leser das Verständnis der Texte?
In der Regel nicht. Der Erfolgsroman von Hallgrímur Helgason (52) mit dem Titel «Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein» (deutsch 2005) setzt sich beispielsweise eingehend und kritisch mit dem literarischen Übervater Halldór Laxness auseinander. Das Buch strotzt auch sonst vor Anspielungen auf die isländische Literatur. Dennoch fand es auch im deutschsprachigen Raum viele Leser.
Wie wichtig ist die internationale Resonanz für die isländische Literatur? Gibt es Autoren, die gezielt Vulkaninsel-Klischees bedienen, um eine ausländische Leserschaft zu erreichen?
Die isländische Literatur ist wie gesagt sehr auf sich selbst bezogen – und daher bisher erstaunlich resistent gegenüber solchen Versuchungen. Trotzdem ist internationale Aufmerksamkeit natürlich willkommen und wichtig für das Selbstbewusstsein der isländischen Literatur.
Wie würden Sie das überproportionale internationale Interesse erklären, das der isländischen Literatur auch unabhängig vom diesjährigen Buchmesse-Auftritt zukommt?
Man muss dieses internationale Interesse relativieren: Es handelt sich dabei um ein spezifisch deutsches Phänomen. Ins Englische wird weit weniger übersetzt, und in den französischen Sprachraum gelangen isländische Bücher nur punktuell. Die Wurzel für das deutsche Interesse legten schwärmerische Islandreisende in der Romantik, als die entstehende Germanistik den Ursprung des Germanentums in Island vermutete. Diese Ursprungshypothese ist zwar längst wiederlegt, der intensive Kulturaustausch zwischen den beiden Sprachräumen aber ist geblieben.