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Wissenschaftsgeschichte

Der vergessene Orient

Plato, Aristotoles und die Stoiker sind nicht die Väter der Vorstellung von «Naturgesetzen». Die Ursprünge sind älter. Sie finden sich in Mesopotamien und Israel. Eine internationale Tagung am 5./6. September an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich geht diesem Paradigmenwechsel in der Wissenschaftsgeschichte nach.
Konrad Schmid

Fast alle massgeblichen Lexika sowie wissenschaftshistorischen Abhandlungen zum Thema «Naturgesetz» besagen, dass die Ursprünge der Idee von «Naturgesetzen» bei den Vorsokratikern, Platon und der Stoa zu finden seien. Das stimmt aber nicht.

Mosaikboden in der Synagoge von Beit Alfa (Israel) mit einer Sternzeichendarstellung: Alttestamentarische Vorstellungen gründen auf früheren Texten.

Eine internationale Tagung an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich am 5./6. September korrigiert die bislang vorherrschende Position in der Wissenschaftsgeschichte, dass die Vorstellung von «Naturgesetzen» im antiken Griechenland entwickelt worden sei. Ins Zentrum rücken stattdessen Mesopotamien und Israel.

Wissenschaftsgeschichte neu denken

Die «Orientvergessenheit» der westlichen Wissenschaftsgeschichte ist nicht schwierig zu erklären: Sie hängt mit den unterschiedlichen Entdeckungs- und Tradierungszusammenhängen der griechischen Wissenschaft einerseits und der altorientalischen Wissenschaft andererseits zusammen: Während die mesopotamische Literatur mit dem Ausgang der Antike weitgehend in Vergessenheit geriet, war das griechische Kulturerbe nicht nur jederzeit greifbar, sondern die durchgängige intellektuelle und kreative Auseinandersetzung mit ihm formte nachgerade die Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes.

Plato, Aristoteles und die Stoiker waren nicht einfach historische Personen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, sondern Paradigmengeber und Bereiter der methodischen Grundlagen für viele weitere nachfolgende intellektuelle Entwicklungen. Gleichwohl entbinden diese Entwicklungen, auf denen die Gestalt der heutigen Wissenschaft fusst, in historischer Hinsicht nicht von der Notwendigkeit, Denkanstrengungen der neben- und aussergriechische Antike ebenfalls mit in Rechnung zu stellen, wenn wissenschaftsgeschichtlich geforscht wird.

In mesopotamischen Texten vorgedacht

Was die Vorstellung von «Naturgesetzen» betrifft, so lassen sich in der Literatur des antiken Israel und Mesopotamiens einige sehr bemerkenswerte Befunde feststellen: So ist etwa im Alten Testament davon die Rede, dass Gott der Sonne, dem Mond und den Sternen «Gesetzesordnungen» (Jeremia 31,35) auferlegt habe, dass er «Gesetzesordnungen» (Jeremia 33,25) für Himmel und Erde festgelegt habe, oder  dass er «Himmelsgesetze» (Hiob 38,33) bestimmt habe. Die Natur und vor allem der Himmel sind also nicht als dynamische und autonome Gebilde gesehen, die regellos funktionieren, vielmehr sind sie der gesetzgeberischen Aktivität Gottes unterworfen, der ihre Regelmässigigkeiten, etwa den Wechsel von Tag und Nacht, die Mondphasen oder die Sternbewegungen festsetzt, wie der Kontext dieser Stellen deutlich festhält.

Doch hat das Alte Testament diese Vorstellung einer gesetzlichen Ordnung nicht erfunden, sondern sie ist in mesopotamischen Texten bereits vorgedacht worden. Die fünfte Tafel des babylonischen Weltschöpfungsepos Enuma Elisch etwa beschreibt die Regelmässigkeit der Sternbewegungen und des Mondlaufs als Resultat gesetzgeberischer Anordnung des babylonischen Hauptgottes Marduk. Dass es gesetzmässige Regularitäten in der himmlischen und natürlichen Welt gibt, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Himmels- oder Naturbeobachtung als extrapolationsfähig gilt: Wer auf den Himmel oder Vorgänge der Natur achtet, kann bestimmen, was geschehen wird. Das im Alten Orient florierende Divinationswesen baut der Sache nach auf eben dieser Überzeugung auf.

Bisherige Lexikonkultur in Frage gestellt

Die alttestamentliche und altorientalische Überlieferung bietet genügend Beispiele für rechtsförmige Interpretationen von Himmels- und Naturphänomenen, so dass die bisherige Lexikonkultur zu den «Naturgesetzen» überdacht werden muss. Gleichwohl ist aber auch Zurückhaltung geboten. Die rechtliche Interpretation natürlicher und kosmischer Phänomene erfolgt in der vorgriechischen Antike entsprechend dem damaligen Rechtsverständnis, dass das Recht nicht als dem Machthaber übergeordnete, sondern ihm untergeordnete Grösse gilt.

Recht ist keine feststehende, konstante Grösse, sondern ein formbares Herrschaftsinstrument eines altorientalischen Königs. Entsprechend ist die rechtliche Interpretation von Himmels- und Naturphänomenen im alten Orient und im antiken Israel anders konturiert als in der europäischen Neuzeit: Himmel und Natur folgen der gesetzgeberischen Aktivität des jeweiligen Gottes. Sie könnten es aber grundsätzlich auch nicht tun.

Die Vorstellung konstanter «Naturgesetze», die keiner Veränderung unterworfen sind, hat denn wohl auch ein tiefgreifendes Verständnis im Wandel des Rechtsverständnis zu ihrer Voraussetzung, das sich einerseits in den frühen Demokratien Griechenlands und andererseits im nachstaatlichen Juda der Perserzeit zeigt: Recht wird in diesen postmonarchischen Gesellschaften nun neu verstanden als eine normative Instanz, die aus sich selber heraus bindende Wirkung hat.

Erst im Gefolge dieser rechtsgeschichtlichen Prozesse konnte sich dann die Vorstellung einer durchgehend naturgesetzlicher Verfasstheit der Welt etablieren, die in der frühen Neuzeit dann ihrerseits die Ausbildung der Vorstellung eines für alle Menschen gleicherweise geltenden Naturrechts nach sich ziehen konnte, das aller menschlichen Gesetzgebung zu Grunde liegt.