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Internetnutzer werden immer häufiger zum Mitmachen aufgefordert. Sie können hier eine Bewertung abgeben, dort einen Beitrag schreiben, Spiele testen oder sich an wissenschaftlicher Forschung beteiligen. «Die Bereitschaft, an Online-Projekten teilzunehmen, wächst», meint Abraham Bernstein, Professor für verteilte und dynamische Anwendungssysteme am Institut für Informatik der Universität Zürich.
Jetzt beginnen zunehmend auch Firmen und Institutionen das Leistungspotential der Online-Gemeinde zu entdecken. Spezialaufträge werden nicht mehr ausgelagert, sondern an die grosse Masse der Internetsurfer delegiert. «Crowdsourcing» statt «Outsourcing»: Das rentiert. «Dank der Informationstechnologie sind Transaktionskosten unbedeutend geworden», sagt Bernstein. «Es ist heute egal, ob jemand in Ankara, Mumbai oder Zürich sitzt, um bestimmte Tätigkeiten am Rechner auszuführen.» Für wenig Geld sind viele Internetnutzer bereit, kurzfristig ihr Können als Freelancer in den Dienst einer Firma zu stellen.
«Es gibt viele Leute, die abends vor dem Fernseher, ihren Laptop aufschlagen und auf dem Web etwas Geld hinzuverdienen», meint Bernstein. Genau dies tun Nutzer auf der Website «Mechanical Turk». Der Name spielt auf eine Erfindung des 16. Jahrunderts an: Beim mechanischen Türken handelte es sich um einen Automaten in der Form eines lebensgrossen, vor einem Schachbrett sitzenden Türken und galt als mechanisches Wunderwerk. Allerdings basierte der Schachtürke auf einer Täuschung: Im Inneren der Maschine sass ein Zwerg, der die Schachfiguren führte. Der mechanische Türke stand Pate für das Mechanical-Turk-Projekt des Online-Anbieters Amazons zur Nutzung künstlicher Intelligenz.
Auf der Website Mechanical Turk sucht sich der Internetnutzer aus den aufgeführten Aufgaben eine passende aus. Vorher wird festgelegt, welchen Betrag er für deren Erledigung bekommt. Gefragt ist häufig mühsame Fleissarbeit, die jedoch kein Computer durchführen kann. So muss der «Webarbeiter» zum Beispiel Titel für einen Eintrag in einem Online-Katalog verfassen oder Objekte auf Bildern identifizieren und sie benennen.
«Beschreiben sehr viele Leute Objekte auf Bildern und das in verschiedenen Sprachen, kann der Computer aus diesen Daten wiederum ein Übersetzungstool erstellen», sagt Bernstein. Um korrekte Resultate zu erzielen, bekommen mehrere Personen dieselben Aufgaben. Je häufiger dieselbe Antwort angegeben wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Angaben stimmen. Die richtigen Antworten können auf diese Weise mathematisch errechnet werden.
Bernstein befasst sich wissenschaftlich mit Formen interaktiver Wertschöpfung, die durch das Web 2.0 erst möglich wurden wie: Open Innovation, Mass Customization und Crowdsourcing. Das Potential der Internetarbeiter sei sehr gross, deshalb bevorzuge er den umfassenderen Begriff des «Social Computing». «Crouwdsourcing ist nur ein Beispiel», sagt er.
Nicht alle «Internetworker» werden durch finanzielle Anreize motiviert. Manche wollen sich an einer guten Idee beteiligen oder suchen nach Möglichkeiten, ihrem Hobby nachzugehen. «Für Wikipedia schreiben Menschen aus Eigenantrieb und aus der Motivation heraus, bei einer grossen Sache mitzumachen», sagt Bernstein. Der Erfolg spricht für sich: Wikipedia ist das grösste Online-Lexikon der Welt.
Auch Wissenschaftler nutzen neuerdings das Potential der Laien im Internet, um ein Problem zu lösen. Bei dem Astronomie-Projekt «Galaxy Zoo» zum Beispiel klassifizieren interessierte Laien Archivaufnahmen abgelichteter Galaxien nach deren Aussehen: elliptisch oder spiralförmig. Lohn für all die Mühe: Im besten Fall kann man Namensvetter einer der Galaxien werden.
Es gibt jedoch auch Formen des Crowdsourcing, bei denen ein Internet-Surfer gar nichts davon ahnt, dass er sich an einem Projekt beteiligt. Zum Beispiel wenn er, um ein neues Yahoo-Konto zu eröffnen, verzerrte Buchstaben und Ziffern erkennen und korrekt wiedergeben muss. Dahinter steckt das Programm ReCaptcha. Ohne etwas davon zu merken, hilft der Internet-User, alte Texte zu digitalisieren, denn die Textelemente stammen häufig aus eingescannten Büchern, alten Zeitschriften oder Radioprogrammheften. Genutzt wird hier ungefragt die dem Computer überlegene Fähigkeit des Menschen, Schriftmuster zu erkennen. Das Beispiel zeigt, wie hier an eine nichtsahnende Masse eine Aufgabe delegiert wird, die ansonsten teuer bezahlt werden müsste.
Das Social Computing operiert also auf der Grundlage der oft beschworenen Weisheit der Vielen. Mal zum Nutzen einiger weniger, mal zum Nutzen aller – wie bei Wikipedia.