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Es ist wie mit dem Spatz: In den letzten zwanzig Jahren kam es beim Haussperling zu dramatischen Bestandseinbrüchen. Warum hat niemand die Alarmzeichen bemerkt? Weil der Spatz ein Allerweltsvogel ist, der in Stadt und Land stets so zahlreich vorkam, dass Vogelforscher ihre Aufmerksamkeit lieber selteneren Arten zuwandten. Aber jetzt ist er fast weg – zumindest in einigen europäischen Metropolen zwitschert er kaum noch von den Bäumen.
Wie dem Spatz könnte es bald auch dem Waldspringkraut (Impatiens noli-tangere) gehen. «Noch ist dieses gelb blühende Schattengewächs bei uns recht häufig anzutreffen. Aber die Pflanze, die an kühlen, feuchten Stellen im Wald und an Bächen wächst, wird in den nächsten Jahren wohl stark unter den Folgen des Klimawandels leiden.»
Für Michael Kessler vom Institut für Systematische Botanik der Universität Zürich sind es gerade diese unspektakulären, mittelhäufig vorkommenden Gefässpflanzenarten, denen künftig besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. «Die seltenen und bedrohten Arten werden bereits seit 1991 auf der national organisierten Roten Liste geführt. In welcher Dichte und Häufigkeit zum Beispiel der blaue Lungen-Enzian im Kanton Zürich vorkommt, ist gut dokumentiert. Aber eine Gesamtdarstellung der heimischen Flora – inklusive der verschiedenen lokalen Süss- und Sauergräser, Wildkraut- und Kleearten – fehlt bislang.»
Für den Kanton Zürich ist die erste und einzige umfassende «Flora» 172 Jahre alt: 1839 brachte der zweiundzwanzigjährige Medizinstudent Albert Kölliker sein «Verzeichnis der Phanerogamischen Gewächse des Cantons Zürich» heraus. Im Vorwort schrieb er: «Es kann auffallend erscheinen, dass ein Jüngling mit einer Arbeit an`s Licht tritt, die meist nur Männer mit gereifterer Erfahrung (...) zu unternehmen pflegen. Möge mich sowohl die Liebe, mit der ich mich von Jugend an der Botanik und besonders der Durchforstung meines Cantons ergeben habe, als auch die Nothwendigkeit, dass einmal etwas für die botanischen Verhältnisse von Zürich gethan werde, entschuldigen.»
Michael Kessler gehört zu diesen Männern mit «gereifterer Erfahrung». Eine neue kantonale Übersicht über Vorkommen und Häufigkeit der Pflanzenarten, sagt der Forscher, der als Vizepräsident der Zürcherischen Botanischen Gesellschaft (ZBG) vorsitzt, sei gerade in Zeiten dringlich, in denen immer mehr Grünland neuen Siedlungen weichen muss, intensive Bewirtschaftung unsere Landschaft eintönig macht und das veränderte Klima die Umwelt schleichend verändert.
Unter der Federführung der ZBG und in Kooperation mit der Fachstelle Naturschutz des Kantons Zürich, dem Zentrum des Datenverbunds der Schweizer Flora und dem Institut für Systematische Botanik der UZH ist nun das Projekt FloZ (Flora des Kantons Zürich) ins Leben gerufen worden. Innerhalb von fünf Jahren soll im Kantonsgebiet der aktuelle Stand der Flora quantitativ erfasst werden. «Mit dieser botanischen Momentaufnahme schaffen wir eine geeignete Basis für historische aber auch zukünftige Vergleiche.»
Beteiligen an der Initiative können sich alle, die Spass an der floristischen Erforschung der heimischen Pflanzenwelt haben. In projektbegleitenden Workshops werden Hobbybotanikern und interessierten Laien die wichtigsten Kenntnisse zur Pflanzenbestimmung anhand von Merkmalen und Handbüchern vermittelt. Über Pfingsten (12. bis 18.Juni 2011) findet zudem das erste FloZ-Camp statt: «In einem botanisch interessanten Teilgebiet des Kantons werden wir Exkursionen unternehmen und unter professioneller Führung gemeinsam einige Quadratflächen kartieren.»
Danach, so Kessler, sind die Botanisierenden fit genug, um in die freie Wildbahn entlassen zu werden. Listen führen und bei schwierig zu bestimmenden Pflanzengruppen herbarisieren, also Belegexemplare sammeln und pressen – das sind die Aufgaben, die den bislang vierzig freiwilligen Helfern bevorstehen.
Eine flächenhafte Kartierung des Kantonsgebiets würde den Rahmen sprengen – daher werden Stichproben erhoben. «Das ist das Kernstück des Projekts», sagt Kessler. «Mich interessiert vor allem, bei welchen Pflanzenarten sich die Häufigkeiten verschieben und weshalb: Welche ökologischen oder physiologischen Eigenschaften erlauben es Pflanzen, dauerhaft zu überleben oder sich gar auszubreiten – während andere immer seltener werden?»