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Sorgte in den 80er Jahren der Einzug des Gurus Maharishi Mahesh Yogi im Urner Bergdorf Seelisberg noch für heisse Diskussionen am Stammtisch und in den Medien, so findet die Auseinandersetzung um Sekten heute in der Öffentlichkeit kaum mehr statt. Auch die Wissenschaft beschäftigt sich nur noch am Rande mit dem Thema, wie Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Zürich, und ihr Mitarbeiter Rafael Walthert feststellten, als sie vor einigen Jahren ein Seminar zum Thema «Neue religiöse Bewegungen» vorbereiteten. «Das hat uns irritiert», erklärt Lüddeckens; also schauten sie und Walthert genauer hin, weshalb die Sekten derart an Bedeutung verloren haben.
Viele der seit den 1960er Jahren entstandenen, oft indisch inspirierten Bewegungen wie Hare Krishna, Bhagwan oder die Transzendentale Meditation Maharishi Mahesh Yogis existieren heute in dieser Form nicht mehr. Die grossen Veränderungen haben zum einen interne Gründe, erklärt Walthert. Aber auch die öffentliche Debatte hat ihre Spuren hinterlassen. «Die massive Kritik hat zu inneren Wandlungsprozessen geführt», sagt Walthert. «Die Bewegungen, etwa die ISKCON – früher Hare Krishna – reagierten darauf mit einer Öffnung ihrer Strukturen.»
Die Sekten wurden aber auch von einem Trend erfasst, der in den vergangenen Jahren alle Bereiche der Gesellschaft geprägt und umgeformt hat: «Die Menschen sind heute immer weniger bereit, über längere Zeit in einer Gemeinschaft eingebunden zu sein und ihr ganzes Leben, die Arbeit, die Familie, die Finanzen in einer Gemeinschaft aufgehen zu lassen», sagt Lüddeckens. Das spüren auch die christlichen Klöster. Sie haben ebenfalls Probleme, neue Ordensmitglieder zu rekrutieren. Dabei sind sie weder von inneren Umwälzungen noch von äusserer Kritik stark betroffen.
Mobilität und Entscheidungsfreiheit sind heute wichtige individuelle Werte. Langfristige Bindungen und Verbindlichkeiten nehmen ab. Religion wird zum Gegenstand individueller Entscheidungen, die auch wieder revidiert werden können. Während die neuen religiösen Bewegungen als organisierte Gemeinschaften dadurch massiv an Bedeutung verloren haben oder ganz verschwunden sind, sind ihre Ideen präsenter denn je und durchdringen immer mehr Lebensbereiche.
Ob Yoga im Migros-Wellness-Park oder Ayurveda in der Hotelküche, ob Weleda-Produkte im Coop oder aus dem Buddhismus übernommene Konzepte in der Psychotherapie: Diese Angebote sind heute selbstverständlich, und es spielt keine Rolle, dass sie ihre Ursprünge in religiösen Bewegungen wie der Transzendentalen Meditation, buddhistisch inspirierten Religionen oder der Anthroposophie haben.
Entsprechend haben sich die Angebote von neuen religiösen Bewegungen gewandelt: Statt Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bieten sie nun Hilfe bei spezifischen Problemen an, sei dies mit Kursen, Büchern oder Gesundheitsangeboten. «Der Markt dafür ist riesig», sagt Lüddeckens. Damit treten neue Organisationsformen in den Vordergrund; diejenigen des Marktes nämlich: Verlage, Buchläden, Kursanbieter oder ganze Hotelketten mit ayurvedischen Wellnessangeboten verbreiten die spirituellen Inhalte an ein stets wachsendes Publikum.
Doch kann man solche Lebenshilfe als Religion bezeichnen? Die meisten Menschen, die solche Angebote nutzen, würden sie nicht als Teile einer Religion wahrnehmen, sagt Lüddeckens. Vielmehr werden sie unter dem Begriff der «Spiritualität» zusammengefasst, der bei vielen positiver konnotiert ist als Religion.
Als Religionswissenschaftlerin ist Lüddeckens fasziniert, welch breiten Raum solche Anteile von Religion in einer Gesellschaft einnehmen, die sich selber dezidiert als nicht religiös bezeichnet. Lüddeckens und Walthert haben für dieses Phänomen den Begriff «fluide Religion» geprägt.
Er bezieht sich einerseits auf die Beweglichkeit, die den religiösen Beziehungen heute innewohnt. Menschen bewegen sich selbstverständlich in verschiedenen religiösen Kontexten. «Man kann Protestantin sein und sich dennoch für eine spezifische Fragestellung in einer esoterischen Buchhandlung mit Literatur eindecken», sagt Lüddeckens.
Zweitens nimmt der Begriff «fluide Religion» das «Ausfliessen» von Religion oder religiösen Vorstellungen in andere gesellschaftliche Bereiche auf, sei es zum Beispiel in die Gesundheit, sei es in die Wirtschaft. Gerade das, so ist Walthert überzeugt, stärkt die gesellschaftliche Relevanz von Religion generell: «Weil sie fluid ist und nicht mehr an eine starke Organisation gebunden, muss man überall mit ihr rechnen.»
Individualisierung der religiösen Beziehung und das «Hinüberfliessen» in den Alltag: Diese beiden Aspekte prägen auch ein Phänomen, das dem zuvor beschriebenen Bedeutungsverlust religiöser Gemeinschaften auf den ersten Blick entgegenzustehen scheint: den Boom evangelikaler freikirchlicher Bewegungen nämlich, die vor allem jüngere Menschen ansprechen. In Zürich zum Beispiel hat die International Christian Fellowship ICF in den vergangenen Jahren mehrere tausend Anhängerinnen und Anhänger gefunden, die regelmässig an den wie Shows inszenierten Gottesdiensten – so genannten «Celebrations» – teilnehmen.
Trotz des wichtigen und für das Publikum attraktiven Gemeinschaftserlebnisses an den «Celebrations» wird beim ICF das Individuum ins Zentrum gestellt. «Das verbindet ihn mit den Formen fluider Religion», sagt Walthert. Das Heilsversprechen ist hier nicht auf die Gesellschaft ausgerichtet, sondern auf den Einzelnen: «Es geht nicht darum, die Welt zu erlösen, sondern zum Beispiel selber gesund zu werden, sich im Alltag wohl zu fühlen.»