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Gewinner oder Verlierer, integriert oder asozial, aggressiv oder ruhig, mehr oder weniger intelligent? Wie werden wir zu dem, was wir sind? Unstrittig, dass eine Kombination aus Genen und Umwelteinflüssen uns ausmacht und dass Gene Umweltfaktoren verstärken oder abmildern können, so wie umgekehrt auch Umweltfaktoren die Ausprägung von Genen.
Als Schlüssel zum Verständnis des Menschen ist diese sogenannte «Gen-Umwelt-Interaktion» in der Psychologie und Psychiatrie breit akzeptiert. Nur konkrete Beweise fehlten dafür lange. Terrie Moffitt und Avshalom Caspi von der US-amerikanischen Duke University haben 2002 mit einer in der Wissenschaftszeitschrift «Science» publizierten Studie über misshandelte Kinder einen Beitrag zum Nachweis der Gen-Umwelt-Interaktion geleistet.
Dank dieser Arbeit liegen nun Beweise für die komplexen Wirkungszusammenhänge von Umwelt und Genen in gewalttätigen und asozialen Verhaltensmustern vor. Von zwei geografischen Ausgangspunkten gehen Moffitt und Caspi bei ihrer Forschung über Gene, Umwelt und asozialem Verhalten aus, die weiter voneinander entfernt nicht sein könnten: Der eine Ausgangspunkt ist Dunedin, eine Provinzstadt ganz am Südzipfel Neuseelands, der andere ist die Stadt Nijmegen in den Niederlanden.
Vor über 30 Jahren begannen in Dunedin ein paar Ärzte mit einem ehrgeizigen Programm: Sämtliche Kinder, die 1972 und 1973 in dem Städtchen geboren wurden, wollten sie bis ins Erwachsenenalter beobachten. Über 21 Jahre hinweg legten sie alle zwei Jahre Berichte über die mehr als 1000 Kinder an. Akribisch erfassten sie die Gesundheit der Probanden, aber auch deren schulische, berufliche, soziale und psychische Entwicklung. Damit die Berichte später für die Forschung tauglich sein würden, mussten sämtliche Angaben darüber, wie die Kinder von ihren Eltern behandelt wurden, sowie über asoziale und kriminelle Verhaltensweisen aus verschiedenen Quellen stammen.
In Nijmegen in den Niederlanden war das Forschungssetting ganz anders: In den 1980er-Jahren erregte dort eine grosse Familie Aufmerksamkeit, weil mehrere ihrer Mitglieder durch Gewaltverbrechen und impulsives Verhalten auffielen. Alle betreffenden Männer waren in einem auffällig geringen Masse intelligent.
Zu Beginn der 1990er-Jahre versuchten Forscher, bei diesen Männern den Anteil einer wichtigen chemischen Gehirnsubstanz, Monoaminooxidase-A (MAO-A), zu messen. Normalerweise wird MAO-A, das im Gehirn produziert wird, nach der Produktion im Urin ausgeschieden. Doch keiner dieser untersuchten Männer schied MAO-A aus. Die Forscher entdeckten bald die Ursache für dieses ungewöhnliche Fehlen: Eine äusserst seltene Mutation im MAO-A-Gen hatte zur Folge, dass die DNA-Instruktionen für die Produktion von MAO-A frühzeitig auf halbem Weg stecken blieben, also bevor MAO-A-Moleküle produziert wurden.
Nach mehrjähriger Forschung konnten die Wissenschaftler das Gen-kodierende MAO-A auf einem der Geschlechts-Chromosomen, dem X-Chromosom, lokalisieren. Dies ist von besonderer Bedeutung, denn Männer verfügen nur über ein X-Chromosom, während Frauen zwei davon aufweisen. Wenn nun in einem X-Chromosom eines Mannes eine Mutation eintritt, gibt es keine Kopie des Genes, die die mutierte Version kompensieren könnte. Daher wirken sich Mutationen auf X-Chromosomen bei Männern mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit aus als bei Frauen.
Um die komplexe Interaktion von Genen und Umgebung aufzuzeigen, werteten Moffitt und Caspi die Berichte von Dunedin unter einem neuen Blickwinkel aus. Die Statistiken zeigen, dass misshandelte Kinder mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eher kriminell werden; die meisten misshandelten Kinder führen als Erwachsene jedoch ein verantwortungsvolles Leben.
Da sich das MAO-A-Gen auf dem X-Chromosom befindet, sind Männer bei einer Mutation besonders gefährdet. Folglich fokussierten Moffitt und Caspi ihr Interesse auf die 442 Männer von Dunedin, für die Berichte vorlagen. Die Männer repräsentierten das ganze Spektrum des sozioökonomischen Hintergrundes. Über ein Drittel von ihnen wies eine Mutation auf, die zu kleinen Anteilen von MAO-A führte; alle andern produzierten hohe Anteile des Enzyms.
Aufsehen erregte die Erkenntnis, dass zwar nur zwölf Prozent der Männer zugleich einen tiefen Anteil an MAO-A aufwiesen und in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, dass auf sie aber 44 Prozent der wegen Gewaltverbrechen erfolgten Verurteilungen innerhalb der Gruppe entfielen.
Zudem entwickelten 85 Prozent der Männer mit tiefen Anteilen an MAO-A, die schwer (nicht nur leicht) misshandelt worden waren, irgendeine Art von asozialem Verhalten.
Ebenso interessant war die Entdeckung, dass diejenigen, die hohe Anteile an MAO-A produzierten, eher nicht asozial wurden, auch wenn sie misshandelt worden waren. Anscheinend schützte MAO-A Kinder vor der Tendenz zu asozialem Verhalten aufgrund von Misshandlungen. Und Knaben, die einen tiefen Anteil an MAO-A aufwiesen, aber gut behandelt worden waren, entwickelten als Erwachsene keine asozialen und kriminellen Züge.