Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Schule

Textblüten pflücken

Lehrpersonen müssen lernen, mit Schülertexten anders umzugehen. Statt nach Defiziten zu suchen, sollten sie die Qualitäten aufspüren, fordert die Pädagogin und Germanistin Christine Weber. 
Thomas Gull

Lehrpersonen lesen und beurteilen Texte. Das ist Teil ihrer Arbeit. Die einen tun das mit Rotstift, andere in Grün. Die Grundhaltung bleibt jedoch die gleiche: der Schülertext ist ein defizitäres Elaborat, das es zu verbessern gilt. Das ist grundsätzlich falsch gedacht, konstatiert Christine Weber in ihrer Dissertation «Lehrerinnen und Lehrer lesen Texte. Untersuchungen zur Lektüre und Beurteilung von Schülertexten».

Sie fordert einen neuen Blick der Lehrpersonen auf die Schülertexte: «Die Lehrperson muss zuerst versuchen, den Text zu verstehen, seine Qualitäten zu sehen. Das bedingt zunächst einmal, dass man sich von den eigenen Normen distanziert und versucht, sich in die Perspektive der Schreibenden hineinzuversetzen.»

Schülertexte: Lesen wie Philologen, nicht wie Lektoren.

Das ist einfach gesagt, aber oft nicht einfach getan, wie Weber aus ihrer eigenen Erfahrung als Deutschlehrerin weiss. Die Reflexion des eigenen Tuns hat sie denn auch angeregt, sich wissenschaftlich mit dem Prozess der Lektüre und Beurteilung von Texten durch Lehrpersonen zu beschäftigen.

Um herausfinden, was Lehrer tun und vor allem denken, wenn sie Schülertexte korrigieren, hat Weber vierzig Lehrpersonen den Auftrag geben, zwei Schülertexte zu lesen und zu beurteilen. Weber hat die Lehrpersonen dabei eng begleitet – sie sass ihnen gegenüber und hat zugehört, wie sich ihre Kolleginnen und Kollegen laut denkend ein Urteil bildeten. Die verbalisierten Denkprozesse wurden aufgenommen und ausgewertet. Die Versuchsanordnung sah vor, dass ein Teil der Lehrpersonen so an die Texte herangeht, wie sie das immer tun, während die andere Hälfte den Auftrag erhielten, den Text «philologisch» zu lesen. Das heisst, sie sollten zunächst versuchen, ihn zu verstehen und seine positiven Aspekte hervorzuheben.

Texte wie Kirschen

Wie Weber feststellen konnte, sind die Lehrpersonen durchaus in der Lage, einen Text einmal anders zu lesen. Doch sobald sie ihn beurteilen müssen, fallen sie ins alte Schema zurück und suchen nach den Defiziten.

Schade, findet Weber, denn «Unterricht ist für alle Beteiligten motivierender, wenn man sich den Stärken der Lernenden zuwendet.» Deshalb sollten die Lehrpersonen die Texte nicht wie Lektoren lesen, sondern wie Philologen: Texte lesen sei wie Kirschen pflücken. Man müsse sie würdigen und geniessen können.

Die andere Art der Lektüre sollte sich auch auf den Umgang mit Texten im Unterricht auswirken. Sowohl auf der Seite der Lehrenden wie bei den Lernenden. Beim Verfassen von Texten sollte der Fokus in einem ersten Schritt nicht auf der Leistungsbewertung liegen: In der Schule werden Texte geschrieben, um zu lernen, wie man Texte schreibt.

Was ist ein guter Text?

«Schreibenlernen braucht Zeit und viel Übung. Ein guter Text entsteht in einem längeren Prozess. Das wird viel zu wenig vermittelt», konstatiert Weber. Deshalb müssten Texte nicht nur korrigiert und benotet, sondern als Teil des Unterrichts eingesetzt werden. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler eigene Urteile abgeben. Gemeinsam wird so eine Vorstellung entwickelt, was ein guter Text ist. Dabei wird allen Beteiligten auch bewusst, dass die Beurteilung eines Textes ein «subjektiver Akt» ist, wie Weber betont: «Dazu muss die Lehrperson stehen.»

Mit ihrer Arbeit verbindet Weber noch eine weitere Forderung: Das Schreiben von Texten müsste nicht nur in den Deutschlektionen geübt werden, sondern auch im Biologie- oder Geschichtsunterricht: «Andere Fächer müssen bei der Entwicklung der Schreibkompetenz ebenfalls Verantwortung übernehmen.» Auch angehende Physiker und Mathematiker müssen Texte schreiben können. Idealerweise solche, die man gerne liest.

Weiterführende Informationen