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Was für viele körperliche Erkrankungen gilt, gilt auch für psychische Leiden: Je früher sie behandelt werden, desto grösser sind die Chancen auf Heilung. Trotzdem gibt es in der Psychiatrie kaum präventive Ansätze, wie etwa in der Physioloige die breit etablierten Mammografien oder Blutdruckmessungen. Dies sei ein Manko der Psychiatrie, sagt Wulf Rössler, Direktor der Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie der UZH: «Wir haben im Grunde keine diagnostischen Instrumente ausserhalb dessen, was der Patient uns berichtet.»
Rössler leitet das «Zürcher Impulsprogramm zur nachhaltigen Entwicklung der Psychiatrie» (ZInEP). Das von einer Stiftung finanzierte Programm hat zum Ziel, die psychische Gesundheit der Bevölkerung des Kantons Zürich systematisch zu erfassen und daraus die psychiatrische Diagnose zu verbessern: «Wir suchen nach Diagnose-Instrumenten, welche gestörte biologische Prozesse abbilden, die aber näher beim gestörten Verhalten liegen als beispielsweise die Genetik», sagt Rössler.
In der Psychiatrie spricht man von Endophänotypen. Als Beispiel nennt Rössler einen gestörten Schreckreflex. Dieser ist ein Indikator für eine gestörte Informationsverarbeitung und hilft, eine Schizophrenie zu diagnostizieren. Im Früherkennungsprogramm für Psychosen und Bipolare Störungen sollen weitere Endophänotypen erforscht werden. Seit April 2010 wurden hundert Patienten zwischen 13 und 35 Jahren in dieses Forschungsprogramm aufgenommen.
Psychotische Erkrankungen zählen zu den schwersten psychischen Störungen. Sie treten überwiegend im jungen Erwachsenenalter erstmals auf. Deshalb ist die Früherkennung dieses Störungsbildes seit den 1990er-Jahren in Gang gekommen. Die Wissenschaft ist sich einig, dass dabei die frühe Entdeckung besonders wichtig ist, um zu verhindern, dass die Psychose chronisch wird. Dies ist aber auch besonders schwierig. Denn Patienten mit einer beginnenden Psychose suchen weit weniger gern von sich aus Hilfe, anders als etwa Menschen mit Angsterkrankungen oder Depressionen.
Das Zürcher Projekt hat nun den Blickwinkel erweitert und neben der Psychose einen weiteren Schwerpunkt erfasst: die Bipolare Störung, welche früher manisch-depressive Störung genannt wurde. Das Programm identifiziert bei jedem Patienten die Risiken einer Erkrankung für beide Krankheitsbilder. Die Forscher erhoffen sich durch den Einbezug der Bipolaren Störung auch neue Erkenntnisse zur Schizophrenie, da die beiden Krankheiten trotz unterschiedlichen Erscheinungsbildern gemeinsame Wurzeln haben.
Bemerkenswert ist auch die grosse Anzahl der angewandten Methoden. In einem psychiatrischen Vollcheck werden die Patienten, die an der Früherkennung teilnehmen, umfassend auf allen Ebenen der Forschung abgeklärt. Die Untersuchungen sind in mehrere Termine aufgeteilt und dauern total rund zwölf Stunden. Sie finden an verschiedenen Orten im Kanton Zürich statt.
Zum Programm gehören standardisierte Tests aus der Entwicklungs- und Neuropsychologie, etwa um die Empathiefähigkeit oder die Konzentration und Aufmerksamkeit zu ermitteln. Stets wird auch die Krankheitsgeschichte der Familie erfasst. Dazu gehört ein allgemeiner medizinischer Check, um körperliche Ursachen für psychische Krankheiten wie etwa Hormonstörungen auszuschliessen.
Von genetischen Analysen im Labor bis zum klassischen Diagnosegespräch werden die Probanden auf alle möglichen Daten gescannt. Die Psychiater schauen auch mit viel High-Tech in das Hirn der Patienten. So wird der Blutfluss im Hirn mit Hilfe der Magnetresonanztomografie (MRI) beobachtet. Zudem steht den Forschern ein Gerät für Nahinfrarotspektroskopie zur Verfügung, das schnelle Vorgänge im Gehirn besser abbildet als das MRI.
Mit dem Einschluss von hundert Probanden seit dem Start im April liegt das Projekt auf Kurs. Ziel ist es, 250 Personen innerhalb von zwei Jahren zu erreichen. Der Forschungsleiter ist aber noch nicht ganz zufrieden: «Es gab auch Enttäuschungen», sagt Rössler. So seien aus dem Schulpsychologischen Dienst praktisch keine Zuweisungen an die Früherkennung erfolgt. Obwohl man gerade auf die Zusammenarbeit mit kantonalen Fachinstitutionen gesetzt hatte.
Rössler erklärt sich die Zurückhaltung der Schulpsychologen mit anderen Krankheitsmodellen und einer gewissen Abwehrhaltung gegenüber der Psychiatrie. Um die angestrebte Grösse der Testgruppe zu erreichen, plant das ZInEP in Zukunft auch Aktionen in der Öffentlichkeit. Allerdings auf diskrete Weise, denn direkte Aufrufe an die Bevölkerung hätten oft den Effekt, dass sich zu viele Personen melden würden, die nicht ins Programm passten.
Die kostenlose Abklärung wird mit einem Therapieangebot ergänzt. Dabei sei man mit Medikamenten zurückhaltend, betont Rössler: «Aber in der Regel sind die Teilnehmenden unseres Forschungsprogramms bereits in Behandlung.» Die jugendlichen Patienten des Programms werden in den nächsten vier Jahren weiter begleitet. «Wir wollen wissen, was aus diesen Leuten wird», sagt Rössler. Entscheidend ist die Frage, ob es gelingt, eine Verschlimmerung der Erkrankung zu verhindern.