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Vor zwanzig Jahren hat Martin Schwab etwas gefunden, wonach er nicht suchte und sich damit auf die Reise gemacht. Heute, im Herbst 2009, steht er «kurz vor dem Gipfel» wie er selber sagt. Schwab sitzt in seinem spartanisch eingerichteten Büro auf dem Irchel-Campus der Universität Zürich und lächelt.
Es ist das Lächeln eines Menschen, der einen grossen Teil seines wissenschaftlichen Lebens in eine Idee investiert hat, die ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes ein «No go» (in Deutsch etwa: «geht nicht») war, nun aber als Glücksfall in die Geschichte der Medizin eingehen könnte.
Ob das tatsächlich so ist, wird sich in den nächsten Monaten weisen. Denn der von Schwab entwickelte Wirkstoff, der das Nachwachsen von verletzten Zellen des Rückenmarks begünstigt, steht vor der klinischen Phase 2, die seine Wirksamkeit beim Menschen zeigen soll.
Das Nogo-Eiweiss ausschalten
Wenn das Medikament die erwünschte Wirkung hat, wäre das ein «Riesendurchbruch bei der Behandlung von querschnittgelähmten Patienten», sagt der Direktor des Paraplegikerzentrums der Universitätsklinik Balgrist, Armin Curt.
Die Universitätsklinik hat zusammen mit Schwab die grosse, international vernetzte Studie aufgebaut, an der sich mittlerweile rund 20 Kliniken in Europa und Kanada beteiligen. Ziel der Studie ist es, zu zeigen, ob die Nogo-Antikörper, die bisher an Ratten und Affen mit Erfolg getestet wurden, auch beim Menschen wirksam sind.
Die Antikörper werden eingesetzt, um das von Schwab vor zwanzig Jahren identifizierte Nogo-Eiweiss auszuschalten, das die Regeneration von verletzten Nervenzellen im Zentralen Nervensystem verhindert. Die Studie wäre dann erfolgreich, wenn nachgewiesen werden könnte, dass dank der Antikörper verletzte Nerven im Rückenmark nachwachsen. Das wäre eine medizinische Sensation, denn bisher gibt es keine vergleichbare Therapie.
Neue Standards für die klinische Studie
Die klinische Studie ist sehr ambitioniert, nicht nur was ihr Ziel, sondern auch was den Umfang betrifft: In der ersten Phase wurden bisher rund 40 Patienten einbezogen, für die zweite Phase rechnet Curt mit etwa 160. Schwab will mit der klinischen Studie neue Standards setzen. Wenn sie erfolgreich verläuft, wäre das Nogo-Projekt ein Vorzeigebeispiel des Prinzips «from bench-to-bedside» – vom Labor bis zur Behandlung der Patienten. «Wir würden verstehen, worauf eine erfolgreiche Therapie basiert, bis in die zellbiologischen Vorgänge hinein», freut sich Schwab.
Schwab könnte eine Frage endgültig beantworten, die Mediziner seit rund 100 Jahren kontrovers diskutieren: Können verletzte Nervenfasern des Zentralen Nervensystems, das heisst des Gehirns und des Rückenmarks, regenerieren?
«Und plötzlich wuchsen da hunderte von Nervenfasern»
Als er 1985 als Professor für Hirnforschung an die Universität Zürich berufen wurde, beschloss Schwab, seine ganze Forschungsgruppe auf das Thema anzusetzen. Der Nationalfonds unterstützte ihn dabei.Schwabs Risikofreude zahlte sich aus – 1989 fand er, wonach er ursprünglich nicht gesucht hatte: Statt eines Wirkstoffs, der das Nervenwachstum im Zentralen Nervensystem begünstigte, entdeckte er in den Oligodentrozytenzellen, die die Nervenfasern umhüllen, den Hemmstoff, der verhindert, dass diese nachwachsen.
Das obstruktive Eiweiss bekam den Namen «Nogo». Der nächste Schritt war, einen Antikörper gegen Nogo zu finden. «Als wir die ersten Antikörper hatten, haben wir diese in Zellkulturen mit Sehnerven gespritzt. Und plötzlich wuchsen da hunderte von Nervenfasern», erinnert sich Schwab. Als erste Versuche mit rückenmarksverletzten Ratten diese positiven Resultate bestätigten, unterbreitete Schwab das Projekt ehemaligen Studienkollegen, die mittlerweile in der Industrie arbeiteten. Diese winkten jedoch ab: zu riskant.
Statt bei einem etablierten Schweizer Pharmaunternehmen landete Schwab deshalb bei einem amerikanischen Biotech-Unternehmen, das die Lizenz für die Verwertung erwarb. Nach ein paar Jahren war aber Schluss, weil der Firma das Geld ausging. Schwab musste auf eigene Faust weiter arbeiten, bis sich 1999 schliesslich Novartis für sein Projekt erwärmen konnte. Damit begann eine achtjährige intensive und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit, die das Projekt bis an die klinische Phase, die vor zwei Jahren gestartet werden konnte, heranführte.
Nogo könnte Neuromedizin revolutionieren
So wie es im Moment aussieht, hat Schwab auf seiner Reise meist die richtigen Entscheidungen getroffen. Und das Nogo, das er im Gepäck hatte, könnte die Neuromedizin revolutionieren. Wie die erste Phase der klinischen Studie zeigt, scheint es bei der Behandlung keine unerwünschten Nebenwirkungen zu geben.
Die zweite Phase soll nun zeigen, wie gut die Behandlung mit Nogo-Antikörpern wirkt. «Wir haben bereits einige sehr gute Effekte gesehen», verrät Armin Curt, «können aber noch nicht sagen, ob diese statistisch signifikant sind.» Curt warnt vor überzogenen Erwartungen: «Realistischerweise kann es nicht das Ziel sein, dass aus den Gelähmten wieder Fussballer und Tänzer werden. Es wäre schon ein grosser Erfolg, wenn es Verbesserungen der Bewegungsfähigkeit um 10 bis 20 Prozent geben würde.»
Gelähmte können wieder gehen
Die entscheidende Frage ist, ob und in welchem Umfang querschnittgelähmte Patienten einen Teil ihrer motorischen Fähigkeiten wieder zurückgewinnen können – im Vergleich zu den sogenannt «spontanen» Verbesserungen, wie sie durch die Rehabilitation erzielt werden. Dieser Regeneration sind allerdings Grenzen gesetzt. Und vor allem: Verletzte Nerven wachsen keine nach. Die Hoffnung ist, dass sich dies mit dem Nogo-Medikament ändert.
Die Behandlung von Patienten mit Rückenmarksverletzungen hat Modellcharakter: Wenn das Nervenwachstum erfolgreich stimuliert werden kann, könnte der Wirkstoff auch für andere Verletzungen des Zentralen Nervensystems wie etwa Schlaganfälle eingesetzt werden. Damit würden sich medizinisch und auch kommerziell noch einmal ganz neue Horizonte öffnen.