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Fünf Uhr morgens, Boston, USA. Psychologiestudentin Anni klappt ihren Laptop auf. Wie zuvor vereinbart, trifft sie sich online mit ihren drei Kommilitonen: Cheng studiert Informatik in Peking, Ernesto ist Kunstwissenschaftler in Sao Paulo und die vierte im Bunde, die Informatikstudentin Lia, setzt sich zur gleichen Zeit in Shanghai an ihren Rechner.
Anni, Cheng, Ernesto und Lia sind zwar verabredet, kennen sich aber nicht persönlich. Denn sie, oder vielmehr ihre digitalen Stellvertreter – so genannte Avatare – treffen sich in einer virtuellen Umgebung. Sie können über den Computer miteinander sprechen oder per Chat schriftlich kommunizieren. Doch nicht nur dies: Die dreidimensional gestaltete Umgebung gibt ihnen das Gefühl, dass sie sich tatsächlich begegnen. «Immersion» nennen Neuropsychologen diesen Effekt. Insbesondere bei emotionalen Reaktionen mache nämlich das menschliche Hirn keinen grossen Unterschied zwischen realer und computergenerierter Welt, sagen Hirnforscher.
Didaktisches Paket aus Vorlesung, Arbeitsgruppen und Web-Foren
Die vier Studierenden sind eine kulturell gemischte und interdisziplinär zusammengewürfelte Arbeitsgemeinschaft, die im Rahmen der so genannten «ShanghAI Lectures» von Informatik-Professor Rolf Pfeifer in diesem Herbstsemester zusammenarbeiten. Rund 290 Studierende haben sich für solche virtuellen Arbeitsgruppen angemeldet. Sie lösen dabei Fragen und Aufgaben zum Lernmodul «Natürliche und Künstliche Intelligenz».
Regelmässig nehmen sie auch an der Vorlesung von Professor Pfeifer teil, die per Videoübertragung an 35 Universitäten rund um den Globus zugänglich ist. Für die Mitarbeit in den Web-Foren, an der Vorlesung und in der Arbeitsgruppe gibt’s Credit Points, die sie sich anrechnen lassen können.
Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Disziplinen
Die Aufgabe heute: Welcher der in der Vorlesung vorgestellten Roboter hat die höchste Selbstwahrnehmung? Um das herauszufinden betrachten die Avatare in ihrer 3-D-Welt die Bauteile des Roboters von allen Seiten, sie beratschlagen sich und teilen sich auf: Eine Zweiergruppe geht in eine Ecke des virtuellen Raumes und analysiert die Bauweise, die anderen zwei kontrollieren die Funktionsweise. Später tragen sie die Ergebnisse zusammen und veröffentlichen sie im Online-Forum.
Avatare beim Psychologen
Informatikprofessor Pfeifer lotete bereits im Jahr 2004 die didaktischen und technischen Möglichkeiten einer internationalen Vorlesung via Videokonferenz aus. Jetzt kommen zu der regelmässig stattfindenden Vorlesung die Arbeitsgruppen hinzu, deren Arbeitsweise und Arbeitsproduktivität Pfeifer in Zusammenarbeit mit einer Gruppe am Psychologischen Institut der Universität Zürich auswertet.
Pfeifer will damit herausfinden, wie international zusammengewürfelte Gruppen miteinander arbeiten können, wo Stolpersteine liegen und in welchen Fällen die Zusammenarbeit besonders fruchtbar – oder furchtbar war. Erste Resultate sind Anfang 2010 zu erwarten.
Blond oder braun?
«Die virtuelle Welt des Internets lässt sich als eine Art Labor nutzen, um soziales Verhalten zu beobachten», erklärt Thierry Bücheler, Assistent am Lehrstuhl Pfeifer und Projektleiter der ShanghAI Lectures. «Solche Online-Umgebungen sind einzigartige Forschungsplattformen mit einem grossen wissenschaftlichen Potential.»
Durch die Wahl eines Avatars könne der Studierende Gender-, Hierarchie- und Rassengrenzen überschreiten. Man begegne sich quasi als gleichgestellte, wenn auch recht anonyme Person, so Bücheler. Die Avatare sehen denn auch sehr standardisiert aus: Im Moment haben die Studierenden die Auswahl aus einer limitierten Liste von äusserlichen Eigenschaften wie zum Beispiel unterschiedliche Frisuren und Kleiderstücke. Der Körperbau ist immer gleich. Dennoch können sie gemeinsam 3-D-Objekte – wie zum Beispiel die Bauteile eines humanoiden Roboters – manipulieren wie in der realen Welt.
Neue Technik für die globale Kommunikation
«An dieser Art der Zusammenarbeit sind nicht zuletzt auch Firmen oder international zusammenarbeitende Gruppen interessiert», erläutert Thierry Bücheler. Das Labor für Künstliche Intelligenz, dessen Direktor Rolf Pfeifer ist, hat unlängst eine Spin-off-Firma gegründet, um die Ergebnisse der Forschung in Produkte und Dienstleistungen umzusetzen.