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Demokratie auf dem Prüfstand

Selbstbestimmung jenseits des Nationalstaates

Demokratie ist eine fragile Staatsform. Hauptfrage ist: Wie lassen sich demokratische Institutionen stärken? Eine internationale Tagung an der Universität Zürich mit dem deutschen Gesellschaftswissenschafter Jürgen Habermas, der am 18. Juni 80 Jahre alt wird.
Roland Gysin
Jürgen Habermas: Politisch-philosophisches Werk als Inspirationsquelle für Demokratie-Tagung.

Ist die Demokratie ein Auslaufmodell? Welche Möglichkeiten und welche Probleme gibt es für eine demokratische Selbstbestimmung der Menschen im Zeitalter der Globalisierung oder im gesellschaftstheoretischen Jargon, in der «postnationalen Konstellation» jenseits des Nationalstaates?

Zwei Tage lang diskutierten Ende Mai in der Aula der Universität Zürich gut zwanzig Philosophen, Völkerrechtler, Soziologen und Historiker die Frage, wie demokratische Institutionen gestärkt werden können. Anlass war der bevorstehende 80. Geburtstag von Jürgen Habermas. Sein umfangreiches politisch-philosophisches Werk sollte dabei Quelle der Inspiration für Diskussionen sein, ohne «in die Vitrine gestellt» zu werden.

Georg Kohler, Jürgen Habermas, Lutz Wingert (v.l.n.r.): Universität Zürich als Ort der «akademischen Befreiung».

Organisiert wurde die Veranstaltung von Georg Kohler, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt politischer Philosophie, Universität Zürich und Lutz Wingert, Professor für Philosophie an der ETH Zürich.

Während der Tagung war Habermas selbst anwesend. Es sei «romantisch» zum 80. Geburtstag nach Zürich zurückzukehren, an die Universität, an der er 1950/51 ein Semester verbracht habe. An die Universität, die für ihn ein Ort der «akademischen Befreiung» gewesen sei.

Unter den Tagungsteilnehmern auch Habermas-Schüler der ersten Generation, etwa Claus Offe, Jahrgang 1940 und 1965 an der Goethe-Universität Frankfurt sein erster Soziologie-Assistent. Aber auch Vertreter der jungen Generation wie Rainer Forst, Jahrgang 1964 und Professor für Politische Theorie und Philosophie in Frankfurt.

Aus Zürich nahmen neben Kohler und Wingert teil: Jakob Tanner, Wirtschaftshistoriker und Kurt Imhof, Professor für Soziologie.

Demokratische Legitmität internationaler Gerichte fragwürdig

Inhaltlich war die Veranstaltung geprägt von einem eher pessimistischen Grundton. Die Demokratie sei zwar kein Auslaufmodell, wie die Veranstalter insinuieren, fand Armin von Bogdandy, Direktor des Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Doch liesse sich etwa am Beispiel internationaler Gerichte zeigen, dass überstaatlichen Gebilden häufig die demokratischen Legitimität fehle.

Armin von Bogdandy, Direktor Max-Planck-Institut, Heidelberg: Internationale Gerichte als «autokratische Gebilde».

Internationale Gerichte würden nicht im «Names des Volkes» urteilen. Sie seien vielmehr «autokratische Gebilde». Ein besonderes Demokratiedefizit zeige sich bei der Wahl der Richter. Besonders im Fokus standen die diversen strafgerichtlichen Ad-hoc-Tribunale wie der Strafgerichtshof für Ruanda oder der internationale Gerichtshof für Ex-Jugoslawien.

«Fehlende Kohärenz» als Hauptproblem

Marti Koskenniemi, Anwalt, Völkerrechtler und früher in diplomatischen Diensten Finnlands stehend, ortet aus der Sicht des juristischen Praktikers ein Hauptproblem in der «fehlenden Kohärenz» und nicht etwa in der Abwesenheit von Recht. «Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, über den Juristen nicht soviel geschrieben und nachgedacht haben, wie Guantanmo und trotzdem ist es ein Ort des Unrechts.»

Sein Vortrag war ein Plädoyer dafür, dass internationale Gerichte aufeinanderhören sollten. Doch leider sei dies unmöglich, da unklar sei, wer «Leithammel» ist. Einer Lösung bedürften vor allem die Fragen, für wen das jeweilige Recht gelte und in wessen Interesse die Richter Recht sprechen.

Es dominiere das Expertenwissen, losgekoppelt von demokratischer Kontrolle. Ein Blick auf Habermas macht dieses Defizit augenscheinlich: Für Habermas ist Recht erst dann legitim, wenn es «kommunikativ» entsteht.

«Banken, die den Staat vor sich hertreiben»

Besonders kritisch fiel die Bestandesaufnahme auf die Frage aus, wie weit es dem demokratisch legitimierten Staat gelingt, Antworten auf die gegenwärtige ökonomische Krise zu finden. Jens Beckert vom Max Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Claus Offe gaben düstere Einschätzungen ab.

Anders als in den 1970er Jahren stehe die Wirtschaftskrise nicht primär im Zusammenhang mit einer «Anspruchsinflation», sondern sei Ausdruck des «Versagens der Wirtschaftsakteure», inklusive staatlicher Institutionen. «Was passiert», fragte sich Becker, «wenn der Staat künftig nicht mehr in der Lage ist, einzugreifen?». Und Claus Offe kreiierte das «unschöne Bild von Banken, die den Staat vor sich hertreiben».

Nicht ganz so dunkel präsentiert sich die Lage für Georg Kohler. Die Kernschmelze des internationalen Finanzsystems sei vermieden worden und die Steueroasen würden ausgetrocknet – «und zwar in einem kollektiven Akt».

«Man kann Demokratie verwirklichen, und alles bleibt beim Alten»

Auf eine griffige Formel brachte es Jakob Tanner, Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich. Der Nationalstaat sei «für die grossen Probleme zu klein und für die kleinen Probleme zu gross».

Jakob Tanner, Professor für Allgemeine Geschichte, Universität Zürich: Verteilungsfrage steht im Zentrum.

Als Einstieg in sein Referat drehte Tanner das Rad der Demokratie-Geschichte zurück zum 21. Januar 1793, dem Tag, an dem Bürger Louis Capet seinen Kopf verliert. Neunzehn Jahre zuvor hatte er als Louis XVI den französischen Königsthron bestiegen.

Die Hinrichtung ist nicht nur ein Meilenstein der französischen Revolution, sondern auch ein Schlüsselerreignis im Aufbruch des abendländischen Menschen aus seiner «selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Immanuel Kant). Doch was trat an die Stelle des geköpften Königs?

«Man kann Demokratie verwirklichen und alles bleibt beim Alten», sagt Tanner. Konkret: Der Weg vom geköpften König Louis XVI 1793 bis hin zur Kaiserkrönung Napoléons I 1804 war kurz, sehr kurz.

Das Beispiel zeigt: Demokratie ist fragil. Nicht nur damals, sondern auch heute. Lutz Wingert sprach denn auch von einem «Charme», den aktuell «Diktaturen oder autoritäre Regimes wie China oder Russland auf die Funktionseliten ausüben». Die Demokratie kann sich ihrer selbst nicht mehr sicher sein.

Tanner schlug vor, die vertrauten, modernisierungskritischen, primär keynesianischen Denkweisen und Argumentationslinien aufzubrechen. Unter anderem rückte er «Genderstudies» oder den englischen Ökonomen Arthur Cecil Pigou (1877–1959) ins Zentrum.

Pigou, ein Zeitgenosse von Keynes, befasste sich vor allem mit «ökonomischer Psychologie» etwa damit, externe Kosten (zum Beispiel Umweltschäden) via Lenkungssteuern zu minimieren. Pigou gilt auch als Begründer der «Wohlfahrtsökonomie». Wachstum allein bringt laut Pigou noch keine allgemeine Wohlfahrt. Im Zentrum steht vielmehr die Verteilungsfrage.

Demokratie auf Vertrauen angewiesen

Rabenschwarz waren die empirschen Analysen des Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Demokratie sei angewiesen auf Vertrauen. Quelle dieser Ingredienz «demokratischer Mentalität» sei der Grad der Integration in eine Körperschaft. Und dieser Grad sei zum zum Beispiel im Osten Deutschlands erschreckend niedrig.

Die Menschen fühlten sich strukturell (gegenüber dem Staat), institutionell (gegenüber der Gesellschaft) und emotional (gegenüber Mitmenschen) ausgeschlossen. Insgesamt sei eine «Ökonomisierung des Sozialen» festzustellen.

Die Konsequenz: 23 Prozent der Bewohner der östlichen Bundesländer finden, die Demokratie sei nicht die beste Staatsform. Im Westen sind 13 Prozent dieser Ansicht. Weitere Beispiele: Die tausendköpfig durch die Strassen Budapests marschierenden, schwarz gekleidete «Ungarischen Garden», die Mediokratie in Berlusconis Italien, «ganz zu schweigen», wie Heitmeyer ausführt, von «der mehrheitlichen Bewunderung der Russen für die Putin-Despotie».

216 Jahre nach der Hinrichtung von Louis XVI ist das Nachdenken über Demokratie aktueller denn je – so eine Art Fazit der Tagung. Und gerade die «postnationale Konstellation» verleiht der Frage nach demokratischer Selbstbestimmung eine neue Dynamik – mit offenem Ausgang.

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