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UZH News: Herr Rudolph, was bedeutet das Minarettverbot für die Integration der Muslime in der Schweiz?
Ulrich Rudolph: Es ist ein Rückschlag. Wir haben bisher noch keinen wirklichen Integrationsprozess im Sinn einer öffentlichen Diskussion gehabt. Damit endlich anzufangen, wird nun noch schwieriger.
Angehörige einer Religionsgemeinschaft wurden diskriminiert, bevor man überhaupt mit ihnen richtig gesprochen hat. Wir stehen deswegen vor der Frage, ob wir die anstehenden Probleme – die es gibt – endlich gemeinsam diskutieren wollen oder ob weiter mit ungelösten Problemen Stimmung und Politik gemacht werden soll.
Was sind die konkreten Probleme, und weshalb kommt diese Diskussion erst jetzt?
Es geht, um kleine Beispiele zu nennen, um die Teilnahme von muslimischen Kindern am Sportunterricht, um Kleiderfragen, um den Stellenwert und die Ausgestaltung der religiösen Bildung im Schulunterricht, um Besuche von Geistlichen im Spital oder in Gefängnissen.
Vor acht Jahren gab es im Kanton Zürich eine Tagung zum Thema «Muslime in der Schweiz» - mit der Absicht, solche Fragen und Probleme für die weitere Diskussion aufzulisten. Sie stiess auch auf grosses Interesse, zum Beispiel im Justizdepartement. Leider ist daraus aber keine dauerhafte Initiative geworden.
Offenbar hat man das Thema «Integration von Musliminnen und Muslimen» schlicht verpasst. Sind sie vor diesem Hintergrund über das Minarettverbot überrascht?
Ja, und zwar insofern, als Minarette eben nicht das Problem sind. Die Frage nach ihnen war rein symbolisch. Es ging darum, den Muslimen den Zugang zum öffentlichen Raum zu verwehren. Für mich war die Frage allerdings auch so provokativ gestellt, dass es mir unwahrscheinlich schien, dass das Volk Ja sagen würde.
Gab es keine Anzeichen dafür?
Vielleicht. Vielen Beobachtern gefiel jedenfalls nicht, dass die Minarettgegner immer ausladender zu argumentieren begannen. Stichworte: Islamisierung, Burka, Kopftuch, Scharia. Das Minarett war da nur noch der Aufhänger für einen anderen Diskurs.
Der Ausgang der Abstimmung hat diese Tendenz noch verstärkt. Im Fokus der Abstimmungssieger rund um die SVP stehen nun generell «die Ausländer».
Ich würde eher von «Fremden» sprechen, also vom Wunsch, das «Eigene» zu bewahren. Erstaunlich ist dabei, dass die Definition des «Eigenen», das heisst des «Schweizerischen», gar nicht wirklich geklärt ist. Je nach Gesprächs- und Argumentationssituation wird sie mit dem Christlichen oder dem Säkularen oder dem Liberalen oder etwas anderem verbunden.
Ist eine Volksabstimmung das richtige Mittel, um solche Fragen zu klären?
Tatsache ist, dass Muslime in solch einer unsicheren Stimmung eine sehr «attraktive» Zielscheibe sind, weil sich mit ihnen Emotionen wecken lassen. Das gilt nicht nur für die Schweiz, dieser Prozess läuft derzeit in vielen Ländern Europas ab. Klar dürfte auch sein, dass es in vielen Ländern zu einem ähnlichen Resultat gekommen wäre. Stellt man die Frage «Fremdheit: Ja oder Nein?», antworten halt viele erst einmal mit «Nein».
Ihr Lösungsvorschlag heisst «Runder Tisch»?
Ja, wobei man das Thema der Religion vom Thema der Integration und der Herkunft einer Person trennen sollte. Wir müssen klar benennen, worum es geht. Es gibt in der katholischen Kirche auch keine unterschiedlichen Regeln für Italiener, Portugiesen oder Spanier, sondern einfach nur für Katholiken.
Es geht letztlich darum, zu definieren, unter welchen Rahmenbedingungen Muslime hier ihre Religion ausüben sollen. Die Muslime selbst betonen, die verfassungsmässige Garantie der «Religionsfreiheit» bedeute «Freiheit der religiösen Gemeinschaften», konkret etwa die Erlaubnis zum Bau von Moscheen. Das ist richtig, aber nur die eine Seite der religiösen Freiheit.
Ebenso wichtig ist die «Religionsfreiheit des Individuums», dass also jede Person über sich und ihren Glauben oder Unglauben selbst bestimmen darf. Das gilt auch für Muslime. Es muss klar gesagt werden, dass es zur Verantwortung der islamischen Gemeinschaften gehört, diese Freiheit zu garantieren.
Sind diese bereit dazu?
Ja. Aber es braucht die praktische Nagelprobe. Sie müssen es umsetzen – allenfalls auch gegen Widerstände extremer Randgruppen. Wichtig dabei: Die Muslime sollten gleichzeitig die Sicherheit haben, als religiöse Gemeinschaft anerkannt zu werden. Momentan fehlt mir in der Schweiz ein wenig die Bereitschaft, den Muslimen ein eigenes religiöses Leben zuzugestehen.
Was muss sich ändern?
Erstens sollten die Bildungsmöglichkeiten für Muslime verstärkt werden. Wenn wir es mit einer Gemeinschaft zu tun hätten, die unsere Sprache spricht und eine qualifizierte Bildung (zu gesellschaftlichen wie religiösen Themen) besitzt, wäre der Dialog einfacher und sachbezogener.
Zweitens: Die Muslime sollten ihrerseits eine offene und zugleich öffentliche Diskussion darüber führen, was es für sie konkret bedeutet, unsere Verfassung anzuerkennen. Das schliesst auch Fragen des sozialen Verhaltens und der individuellen Freiheiten ein.
Und drittens scheint es mir notwendig, die vielen konkreten, kleinen Fragen und Probleme aufzulisten und sich gegenseitig zu sagen, wo der Schuh drückt. Zum Beispiel am erwähnten «Runden Tisch».
Kann bei dieser Diskussion auf gemeinsame Werte zurückgegriffen werden?
Ja, durchaus. Viele Dinge unseres Zusammenlebens sind im Kern religiös motiviert. Die zehn Gebote der Bibel lassen sich dem Inhalt nach auch bei anderen Religionen finden – nicht zuletzt im Islam.
Für Muslime ist es etwa selbstverständlich, aufeinander Rücksicht zu nehmen oder den Bedürftigen Almosen zu geben; Verhaltensweisen, die wir in unserer Boni-Kultur oft nicht mehr pflegen. Vereinfacht könnte man sagen: Die ethischen Vorstellungen vieler Muslime sind vergleichbar mit dem, was unsere Grosseltern darunter verstanden haben.
Zum Beispiel auch, wenn es um das Familienbild geht. Konservative Familienvorstellungen, wie sie der SVP vorschweben, sind in gewisser Weise «muslimisch». Anders gesagt, haben viele Muslime ein traditionell helvetisches Familienverständnis.