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«Mit meiner Forschung möchte ich einen Beitrag leisten zum besseren Verständnis der biochemischen Vorgänge, welche im Gehirn ablaufen, wenn wir Lernen oder Vergessen», sagt Claudio Gisler, seit einem Jahr Doktorand in der Gruppe von Professor Peter Sonderegger am Biochemischen Institut.
Das gehäufte Auftreten schwerer geistiger Behinderung in einer Familie aus Nordafrika erregte vor einigen Jahren das Interesse der Forschergruppe um Peter Sonderegger. Die betroffenen Menschen sind kaum lernfähig oder vergessen Erlerntes sofort wieder.
Als Ursache für die Behinderung wurde ein vererbter Gendefekt im Neurotrypsin-Gen ermittelt. Dieser Defekt führt dazu, dass im Gehirn der Patienten das Protein Neurotrypsin fehlerhaft gebildet wird. Daraus schlossen die Forscher, dass Neurotrypsin beim Lernen und Erinnern eine zentrale Rolle spielen muss.
Neurotrypsin ist ein Enzym, welches andere Eiweisse an bestimmten Stellen schneiden kann. Solche Enzyme nennt man Proteasen. Spaltungen von Proteinen spielen bei vielen Prozessen und Köperfunktionen eine wichtige Rolle.
Im Gehirn kommt Neurotrypsin an Synapsen vor. Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, an denen elektrische Erregung und somit eine Information von einer Nervenzelle auf eine andere Zelle übertragen wird.
Speziell ist, dass sich zwei Nervenzellen nicht direkt berühren, sondern durch einen Zwischenraum, den sogenannten synaptischen Spalt, voneinander getrennt sind. Und genau diese Lücke ist der Ort, an dem Neurotrypsin aktiv ist.
Wird eine Nervenzelle stimuliert, schüttet sie chemische Botenstoffe in den synaptischen Spalt aus, welche die Erregung an die nächste Zelle weiterleiten. Gleichzeitig mit den Botenstoffen gelangt auch Neurotrypsin in den Zwischenraum. Das Enzym befindet sich jetzt aber noch in seiner inaktiven Form. Experimente haben gezeigt, dass Neurotrypsin erst dann aktiviert und somit funktionsfähig wird, wenn die Erregung die nachfolgende Nervenzelle erreicht hat.
«Wir vermuten, dass dann ein bis jetzt unbekanntes Protein in den synaptischen Spalt ausgeschüttet wird, welches Neurotrypsin so verändert, dass dieses aktiv wird», erklärt Claudio Gisler. Das Finden und Charakterisieren dieses Proteins ist das Hauptziel von Gislers Doktorarbeit. Im ersten Jahr habe er die Anzahl potentieller Kandidaten experimentell von sieben auf vier einschränken können. Jetzt gilt es herauszufinden, welches dieser Proteine im Gehirn gleichzeitig mit Neurotrypsin vorhanden ist.
Worüber man hingegen schon gut Bescheid weiss, ist, was passiert, nachdem Neurotrypsin aktiviert worden ist. Bisher wurde ein einziges Protein gefunden, welches durch die Protease Neurotrypsin geschnitten werden kann: Agrin.
Es ist unter anderem bekannt, dass Agrin eine wichtige Funktion bei der Entwicklung und der Aufrechterhaltung von Verbindungen zwischen Nervenzellen und Muskelzellen spielt. Im Gehirn ist es an der Bildung von fingerförmigen Ausstülpungen an Nervenzellen beteiligt, aus welchen schlussendlich neue Kontakte zwischen einzelnen Nervenzellen entstehen können.
Es ist jedoch nicht das ganze Agrin-Protein, welches die Bildung solcher Zellfortsätze bewirkt, sondern bloss ein Fragment des ganzen Proteins. Dieses Fragment entsteht nur, wenn Neurotrypsin das grosse Agrin-Protein an zwei Stellen schneidet.
«Die Spaltung von Agrin und die Funktion des Agrin-Fragments könnte den Zusammenhang zwischen Neurotrypsin und Lernen erklären», meint Claudio Gisler. Noch weiss man zwar wenig, was im Gehirn genau passiert, wenn es lernt oder vergisst. Sicher ist jedoch, dass Veränderungen der Kontakte zwischen Nervenzellen dabei eine grosse Rolle spielen.
Um neue Informationen verarbeiten zu können, verändern die Nervenzellen ihre synaptischen Kontakte. Zur Langzeitspeicherung richten sie durch Bildung neuer Synapsen zusätzliche Verbindungen untereinander ein. In diesem Prozess spielt das durch Neurotrypsin gebildete Agrin-Fragment eine entscheidende Rolle. Ausgelöst durch das Agrin-Fragment, wachsen von einer Nervenzelle feine Fortsätze auf ihre Nachbarzellen zu. Wenn sich am Ende des Fortsatzes eine Synapse bildet, wird der Austausch von Informationen zwischen den Zellen stabilisiert.
In der Forschergruppe von Professor Sonderegger arbeiten neben Biochemikern auch Neurobiologen, die das Verhalten von Mäusen, denen Neurotrypsin fehlt, untersuchen. «Für mich als Biochemiker gibt es noch viel über das Gehirn und seine Funktionsweise zu lernen», so Claudio Gisler. Den Austausch mit seinen Kolleginnen und Kollegen findet er deshalb besonders spannend.