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In einer Studie hat das Team um Wulf Rössler, Professor für Klinische Psychiatrie an der UZH, für den Zeitraum von 1994 bis 2004 die Suizide von Patientinnen und Patienten in den psychiatrischen Kliniken des Kantons Zürich untersucht. Von rund 87'000 Patientinnen und Patienten nahmen sich 141 Personen das Leben, zumeist während eines Klinik-Urlaubs. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung war das Suizidrisiko bei den Patienten um das Fünfzigfache erhöht.
Überdurchschnittlich gefährdet waren Personen mit Persönlichkeitsstörungen (Borderline/Impulskontrollstörung), affektiven Störungen (vor allem Depression) und Frauen.
Erstaunlich war für die Forschenden vor allem, dass bei rund 90 Prozent der Suizidenten in der Krankheitsgeschichte vorgängig kein erhöhtes Suizidrisiko erkennbar war.
UZH News: Ähnlich wie bei der Fremdgefährdung durch Straftäter scheint es auch schwierig zu sein, eine Selbstgefährdung vorherzusehen?
Rössler: Vielleicht ist es sogar noch schwieriger. Denn bei einer Fremdgefährdung ist man in Interaktion mit einer anderen Person. Den Suizid muss man aber nur mit sich selber aushandeln und das haben wir von aussen noch schwerer im Blick.
Sich unglücklich fühlen und lebensmüde Gedanken haben, geht mit vielen psychischen Störungen einher und gehört zum Alltag in einer Psychiatrischen Klinik. Die Schwierigkeit besteht darin, diejenigen Personen zu erkennen, die eine konkrete und unmittelbare Suizidabsicht haben.
Wie geht man dabei vor?
Die Patientinnen und Patienten werden direkt darauf angesprochen: Haben sie daran gedacht, sich das Leben zu nehmen? Haben sie eine konkrete Vorstellung, wie sie es tun würden? Haben sie einen bestimmten Zeitpunkt vor Augen? Haben sie Hilfsmittel dazu besorgt?
Wenn jemand all diese Fragen mit Ja beantwortet und zuhause eine Waffe liegen hat, ist der Fall wohl klar?
Ja, wenn jemand stark gefährdet ist, organisieren wir in der Klinik beispielsweise eine Sitzwache für die Nacht. Das sind zwar dramatische Geschichten, aber von der Prognose her eher unproblematisch. Von den Suizidenten in unserer Studie war aber bei fast niemandem eine akute Suizidgefährdung in der Krankengeschichte dokumentiert.
Wie lässt sich das erklären?
Lebensmüde Gedanken unterliegen starken Schwankungen. Jemand denkt selten über Wochen oder Monate konstant daran, sich umzubringen. Der Suizidwunsch bedeutet oft nicht, dass jemand genug hat vom Leben, sondern eher: So will ich nicht leben.
Dabei ist es oft sehr schwierig einzuschätzen, wo jemand inmitten dieser Schwankungen gerade steht. Nehmen wir das Beispiel einer depressiven Person, die kaum mehr aus dem Bett kommt, wenn sie in die Klinik eintritt. Im Laufe der Behandlung wird sich ihre Antriebskraft vermutlich schneller entwickeln, als dass sich ihre Stimmung bessert. So kann jemand plötzlich die Kraft haben, sich tatsächlich umzubringen.
Dann darf man im Zweifelsfalle keinen Urlaub gewähren oder jemanden nicht entlassen, um ein Risiko auszuschliessen?
Bei begründetem Verdacht auf einen bevorstehenden Suizid ist das sicher so. Aber wir können die Menschen nicht ewig einsperren. Das ist lebensfremd. Suizidgedanken entstehen im Lebenszusammenhang und Therapien sind darauf ausgerichtet, Menschen wieder ins Leben zu integrieren. Also muss man immer ein gewisses Risiko eingehen. Die Patienten müssen ihr Leben ausprobieren können.
Das Problem scheint zu sein, dass man bei der Einschätzung immer auf die Aussagen der Patientinnen und Patienten angewiesen ist und keine objektiven Kriterien existieren.
Das ist so. Und ich mag als Psychiater noch so viel Erfahrung haben, es kann trotzdem passieren. Auch eine Magnetresonanzröhre wird mir diese Arbeit nicht abnehmen können, indem sie vielleicht aktive Hirnareale anzeigt, die mit Suizidgedanken einhergehen. Etwas Denken und etwas Tun ist nicht dasselbe. Insofern wird es nie objektive Kriterien geben, und wir sind immer auf die persönliche Einschätzung angewiesen und darauf, was der Patient uns sagt.
In der Studie wird trotzdem die Forderung erhoben, die Instrumente zur Einschätzung des Suizidrisikos zu verbessern. Ist das überhaupt möglich?
Ich denke schon, aber wir brauchen mehr Forschung. Es existiert kein eigentliches Forschungsprogramm zu Suizid, um analog zur gegenwärtig stark geförderten Forschung bei Straftätern bessere Risikoprofile erstellen zu können. Mir sind auch aus dem Ausland keine spezifischen Methoden bekannt, die sich auf Menschen ausrichten, die sich das Leben nehmen wollen.
Wie müsste eine solche Forschung aussehen?
Es geht darum, das Stimmungsbild der Patienten besser zu verstehen. Wie sieht diese Weggabelung im Kopf aus, wenn sich jemand entscheidet, jetzt bringe ich mich um? Eine sinnvolle Art der Forschung wäre etwa, täglich und in standardisierter Form mit den Patientinnen und Patienten darüber zu sprechen: Was haben sie heute erlebt? Welche psychosozialen Ereignisse haben die Gedanken in welche Richtung beeinflusst?
An der Weggabelung ändert sich beim Patienten etwas in Bezug auf die Wahrnehmung seiner Krankheit und seiner Umwelt. Wenn wir das besser verstehen, können wir besser einschätzen, was diese Person braucht.
Ist das eine andere Form von Forschung oder auch der Betreuung?
Es ist auch ein Plädoyer für eine andere Behandlung. Die Psychiatrie hat oft noch ein zu paternalistisches Verhältnis den Patientinnen und Patienten gegenüber, im Sinne von: Ich weiss, wie du leben solltest, und du musst es jetzt so umsetzen.
Wir brauchen mehr Sensibilität für die subjektiven Bedürfnisse der Patienten, sonst sagt sich der Patient im schlimmsten Falle: Wenn ich nicht verstanden werde, bringe ich mich halt im Stillen um. Ich plädiere für einen sensibleren Dialog, eine sensiblere Psychotherapie, als wir das derzeit anbieten können. Das bedeutet auch mehr psychotherapeutische Schulung für die Mitarbeitenden in Psychiatrischen Kliniken.
Ganz verhindern lassen sich Suizide wohl trotzdem nicht?
Wenn jemand anhaltend und langfristig den Wunsch hat, sich zu töten, wird man ihn kaum davon abhalten können. Aber wenn der Wunsch schwankend ist, kann man versuchen, etwas an der Umwelt zu verändern, oder die Belastbarkeit des Patienten zu erhöhen.
Nicht zuletzt gilt es auch, handfeste Suizidprävention zu machen, etwa indem gefährliche Brücken oder Bahngeleise besser gesichert werden – gerade in der Nähe von Kliniken. Wir wissen nämlich, dass jemand oft nicht einfach zur nächsten Brücke geht, wenn diese Gefahrenpunkte gesichert sind, sondern ihn der Mut verlässt und er von seinem Plan ablässt. Dann haben wir eine nächste Chance, ihm zu helfen.