Navigation auf uzh.ch
Wir schreiben das Jahr 2048. An der Universität Zürich wird das hundertjährige Jubiläum der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 gefeiert. Verschiedene Lehrveranstaltungen sind deshalb dem Thema «Menschenrechte» gewidmet.
Jus-Studentin Helvetia hat in letzter Minute noch einen für ihren Studienabschluss dringend notwendigen Platz in einem Seminar ergattert und – wie das so geht – das einzige noch übrig gebliebene Thema gefasst: eine Arbeit über das «Verhältnis Menschenrechte – direkte Demokratie am Beispiel der Minarettinitiative 2009».
Etwas stimmt doch nicht
In der Literatur der 2040-er Jahre wird die Minarettinitiative zwar als eigentlicher Wendepunkt für das Verständnis des Verhältnisses von Demokratie und Menschenrechten beschrieben, doch je mehr Helvetia forscht, desto weniger versteht sie, wie die Bestimmung «Der Bau von Minaretten ist verboten» eine solche Wirkung entfalten konnte. Im Verlauf ihrer Recherchen stösst sie auf erstaunliche Ergebnisse, die sie ihrer Professorin präsentiert:
«Etwas kann mit meinen Quellen nicht stimmen. Meine Abklärungen zeigen, dass die Initiative von linken Frauen und sehr konservativen Kreisen angenommen wurde. Wenn ein Weihbischof und aktive Feministinnen erklären, sie hätten mit ihrem Ja ein Zeichen setzen wollen und darauf vertraut, dass die Initiative ohnehin abgelehnt werde, stimmt doch etwas nicht. Mich irritiert auch, dass in praktisch sämtlichen Stellungnahmen nach der Abstimmung gesagt wurde, es sei gar nicht um die Minarette gegangen.
Aber worum ging es dann? Offenbar war schon vor der Abstimmung klar, dass eine Annahme die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzen und es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einem Beschwerdeführer Recht gäbe. Ich verstehe nicht, wie sich die Schweiz – freiwillig – in eine solche Situation manövrieren konnte.»
Eine Palette von Motiven
Kein Wunder, ist Helvetia ziemlich ratlos. Drehen wir deshalb das Rad wieder ins Jahr 2009 zurück und suchen eine Antwort.
Ich habe bis jetzt noch niemanden getroffen, dem es bei der Abstimmung wirklich um Minarette ging - unabhängig vom Stimmverhalten. Vielmehr wird eine Palette von Motiven aufgeführt, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen:
- Der Schutz der Menschenrechte, vor allem das Diskriminierungsverbot, das Verbot von Zwangsehen und Genitalverstümmelung, die Religionsfreiheit. In diesen Kontext gehört auch die Forderung nach Toleranz – und zwar in doppelter Hinsicht: Toleranz des Staates gegenüber Minderheiten, insbesondere anderen Religionen, und Toleranz der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen untereinander.
- Der Schutz von Demokratie und Rechtsstaat vor Missbrauch durch extreme Gruppierungen. Hierzu zählt nicht zuletzt die Angst vor der Entstehung einer «Parallelgesellschaft».
- Eine dritte Gruppe von Motiven fasse ich unter dem Stichwort mangelnde Integration zusammen. Dazu gehört die Forderung, Angehörige anderer Kulturen und Religionen hätten sich nicht nur an die schweizerische Rechtsordnung zu halten, sondern auch an schweizerische Gebräuche. Die Angst, zu Fremden im eigenen Land zu werden, spielt hier eine grosse Rolle.
Dabei geht es nicht primär um spektakuläre Gewaltakte, sondern auch um langsame Entwicklungen – etwa, dass in der Migros-Filiale in einem Quartier mit hohem Ausländeranteil zunehmend exotische Lebensmittel verkauft werden und stattdessen der geliebte Fleischkäse aus dem Sortiment verschwunden ist.
Im Widerspruch zu internationalem Recht
Dass teilweise aus denselben Motiven unterschiedlich abgestimmt wurde, macht die Sache nicht einfacher. Heute finden wir uns mit einem Abstimmungsresultat konfrontiert, das auf Fragen eine Antwort gibt, die so gar nicht gestellt wurden.
Das allein wäre schon eine grosse Herausforderung. Nun tritt aber noch ein weiteres Problem hinzu: Die angenommene Initiative verstösst gegen internationale Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz.
Der Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot in Verbindung mit der Religionsfreiheit der EMRK ist offensichtlich und wird, wenn es zu einem Verfahren kommt, zu einer Verurteilung der Schweiz führen. Auch die Vereinbarkeit mit dem Uno-Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte ist zweifelhaft.
Wir alle müssen uns überlegen, wie direkte Demokratie, internationaler Menschenrechtsschutz und offensichtlich ungelöste integrationspolitische Probleme zu vereinbaren sind.
Ein «Ventil» der Unzufriedenen
Fragen wir uns zunächst, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass dem Volk eine Frage gestellt wird, die offenbar etwas anderes meint, als ihr Wortlaut vermuten lässt.
Die Verfassungsinitiative ist bekanntlich eines der wichtigsten Instrumente unserer Demokratie. Sie ermöglicht eine aktive Mitwirkung an der Gestaltung der Verfassung und ist gleichzeitig ein «Ventil», um Unzufriedenheit auf rechtlich geordnete, gewaltfreie Weise zu äussern.
Insofern hat die Volksinitiative auch ein revolutionäres Potenzial, dem eine wichtige Kontrollfunktion gegenüber staatlichen Institutionen zukommt. Dass mit einem solchen Instrument auch unbequeme Vorhaben realisiert werden können, liegt in der Natur der Sache. Problematisch wird es, wenn eine Initiative nicht einfach unbequem ist, sondern gegen für die Schweiz verbindliches Recht verstösst, wie im Fall der Minarettinitiative gegen die EMRK.
In der politischen Diskussion werden diese Abkommen teilweise als ein Korsett dargestellt, das die Selbstbestimmung der Schweiz behindert. Wer heute die Meinung vertritt, die Schweiz solle die EMRK kündigen, damit die Minarettinitiative «ungehindert» vom EGMR umgesetzt werden kann, übersieht – oder blendet bewusst aus –, dass die internationalen Menschenrechtsgarantien auch die Menschen in der Schweiz schützen.
Auf einen – zugegebenermassen plakativ formulierten – Punkt gebracht: Die EMRK schützt die Anti-Minarett-Plakate genauso wie den Bau der Minarette.
Eingebettet in ein internationales Gefüge
Auch die Uno-Menschenrechtspakte sind nicht, wie das zum Teil dargestellt wird, der Schweiz von aussen aufoktroyierte Verpflichtungen. Wer so argumentiert, vergisst, dass wir immer wieder darauf angewiesen sind, unsere Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen anderer Staaten zu schützen.
Die Schweiz ist keine Insel, und ihre Bürgerinnen und Bürger sind keine Einsiedler. Wir sind eingebettet in ein internationales Gefüge. Wenn wir uns vom internationalen Menschenrechtsschutz verabschieden, schaden wir vor allem uns, den Menschen in der Schweiz.
Wenn also Austritt keine Option ist, bleibt die Frage: Wie weiter? Drei Pfeiler scheinen mir wesentlich:
1. Die Bindung aller Religionsgemeinschaften an die Menschenrechte: Damit könnte den Befürchtungen, dass Religionsgemeinschaften diskriminierende Praktiken oder Zwangsheiraten fördern, auf rechtsstaatliche Weise begegnet werden.
Eine solche Bindung müsste für alle Religionsgemeinschaften gelten. Natürlich muss eine solche Bindung mit den Betroffenen diskutiert und konkretisiert werden. Sie könnte dann an die Stelle des Minarettverbots in der Verfassung treten und die Anliegen der Ja-Stimmenden im menschenrechtlichen Bereich umsetzen.
2. Verbesserung und Priorisierung der Integration: Hier sind der Kreativität bei der Umsetzung keine Grenzen gesetzt. Denkbar sind gesetzgeberische Massnahmen, aber auch informelle Modelle wie das Beispiel der deutschen Islamkonferenz. Die grosse Herausforderung liegt dabei im Prozess der Erarbeitung. Könnten wir hier Neuland beschreiten, indem die Bevölkerung im Rahmen eines Integrations-Konvents einbezogen wird?
3. Verhältnis Völkerrecht/internationale Menschenrechte und Volksinitiativen: Mit diesem Thema begebe ich mich auf heikles Terrain, was sich etwa daran zeigt, dass vor einigen Tagen Kollegen, die diese Frage aufgeworfen hatten, von der einschlägigen Presse als «Totengräber der Demokratie» diffamiert wurden. Die simple Weisheit, das Volk habe immer Recht, zielt ebenso am Problem vorbei.
Es geht ja eben gerade nicht darum, wer Recht hat, sondern, wie wir ein Problem zwischen zwei Rechtsordnungen lösen. Polemik und Wahlpropaganda helfen uns nicht weiter. Wir brauchen Fachleute, um Modelle zu entwickeln, die dann mit der Politik diskutiert werden können. Die Gruppe von Studierenden, die sich bereits an die Arbeit gemacht hat, um konkrete Lösungsvorschläge zu erarbeiten, ist auf dem richtigen Weg: Knochenarbeit statt Rhetorik!