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Bevor Menschen dereinst auf den Mars fliegen oder auf Mondstationen arbeiten können, müssen nicht nur grosse technologische Hürden genommen werden. Was es für längere Aufenthalte in der Schwerelosigkeit ebenso braucht, ist eine neue Raumfahrtmedizin. Denn seit den ersten Apollo- und Sojus-Raumfahrtmissionen ist bekannt, dass das menschliche Immunsystem offenbar Probleme mit der Schwerelosigkeit hat.
In der Ära von Langzeitmissionen, wie Aufenthalten auf der Internationalen Raumstation ISS, in geplanten Mondstationen oder einem Flug zum Mars, werden Astronauten nicht mehr nur Tage oder wenige Wochen, sondern Monate und Jahre in der Schwerelosigkeit leben und arbeiten. Hier können medizinische Aspekte, die auf Kurzzeitmissionen völlig unproblematisch sind, leicht zu fundamentalen Schwierigkeiten anwachsen und die Missionen gefährden.
Bereits in den 80-er Jahren führte der ETH-Forscher Augusto Cogoli auf den ersten Space-Shuttle-Missionen Experimente mit menschlichen Immunzellen durch. Er stellte dabei fest, dass diese in der Schwerelosigkeit fast vollständig ihren Dienst verweigerten. Astronauten leiden bei längeren Aufenthalten im All denn auch verstärkt unter Infektionen. Zudem erwachen Viren im Nervensystem zu neuer Aktivität, die zuvor gut unter Kontrolle des Immunsystems standen.
Gerade im Gehirn ist aber eine hochfein regulierte und kontrollierte Immunüberwachung überlebenswichtig. Bei einem zu wenig an Immunkontrolle breiten sich unerwünschte Viren im Nervensystem aus, bei einem zu viel an Immunaktivität kommt es zu schädlichen Entzündungen. Daher ist das Immunsystem des Gehirns ganz besonders heikel und unter langer Schwerelosigkeit möglicherweise gefährdet.
Warum das Immunsystem in der Schwerelosigkeit nicht mehr richtig funktioniert, weiss man bis heute nicht. Oliver Ullrich, Ordentlicher Professor für Anatomie an der Universität Zürich (UZH) und im Nebenamt Professor für Weltraumbiotechnologie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg in Deutschland, vermutet die Lösung dieses Rätsels in den Zellen selber. Seine bisherigen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bestimmte Zellen besonders empfindlich auf den Wegfall der Schwerkraft reagieren und dass schwerkraft-sensitive molekulare Vorgänge im Inneren dieser Zellen existieren.
Von einzelligen Organismen wie Paramecium (Pantoffeltierchen) und Loxodes (Wimpertierchen) beispielsweise ist bekannt, dass die Schwerkraft über Rezeptoren (so genannte Gravi-Rezeptoren) wahrgenommen werden kann und dass die Schwerkraft bestimmte Signalprozesse innerhalb der Zelle oder ihr Verhalten stark beeinflusst. Wenig weiss man jedoch über die molekularen Mechanismen der Schwerkraftsensitivität bei Zellen von Säugetieren. Ullrich erforscht diese Frage anhand von Immunzellen, die er auf den so genannten Parabelflügen in der Schwerelosigkeit untersuchen kann.
Bei den Parabelflügen werden durch wiederholte Flugmanöver mit extremen Steig- und Sturzflügen in einem Airbus A300 Phasen der Schwerelosigkeit erzeugt, in denen die Zürcher Forscher direkt an Bord in einem speziellen fliegenden «Zellkulturlabor» ihre Experimente durchführen können. Die Flüge sind die einzige Alternative zu teuren Experimenten im Weltraum, für die es wegen der beschränkten Kapazitäten jahrelange Wartezeiten gibt. Dank der Parabelflüge hat Ullrich relativ kontinuierlichen Zugang zu Experimentmöglichkeiten in Schwerelosigkeit und kann Abfolgen von biowissenschaftlichen Experimenten so wie in einem Labor auf der Erde durchführen.
«Diese Forschungsmöglichkeit müssen wir so intensiv nutzen wie möglich», betont Ullrich, «denn bis heute verstehen wir noch nicht einmal die fundamentalsten biologischen Prozesse und Vorgänge, die die Schwerelosigkeit in menschlichen Zellen auslöst. Technologisch befinden wir uns ohne Zweifel im Zeitalter der Raumfahrt. In den Lebenswissenschaften des Weltraums müssen wir erst noch die Steinzeit verlassen.» Um Menschen für die in einigen Jahrzehnten geplanten Marsflüge «flugfähig» zu machen, ist deshalb eine schnelle, koordinierte und effektive biomedizinische Forschung notwendig.
Auch wenn Ullrich für seine Forschung buchstäblich in die Luft geht, ist sie dennoch nichts Abgehobenes. Die Schwerkraft gehört zu den grundlegendsten Bedingungen allen Lebens auf der Erde. Sie war bei der Entstehung aller komplexen molekularen Vorgänge innerhalb der Zellen und bei der Zell-Zell-Kommunikation ständig präsent. Die Frage, ob und welche Funktionen und signalübertragenden Mechanismen in Säugetierzellen von der Schwerkraft abhängig sind und auf welche Art und Weise die Schwerkraft in unseren Zellen wahrgenommen werden kann, sei deshalb nicht mehr und nicht weniger als eine Bemühung, die fundamentalsten Grundlagen der Existenz des Lebens auf der Erde zu verstehen, so Ullrich.