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Bei den Striemengrasmäusen kann man ganz unterschiedliches männliches Verhalten beobachten. Es gibt die Männchen, die ruhig und zufrieden bei der Familie im Nest sitzen und ihr aggressives Verhalten darauf beschränken, das Territorium gegen Eindringlinge zu verteidigen. Diese Männchen sind zwar gross und dominant, doch führt das nicht zu asozialem Verhalten. Im Gegenteil, sie sind die sozialsten unter den Männchen und haben relativ tiefe Testosteronwerte (wie es bei menschlichen Vätern ebenfalls der Fall ist). Am Morgen stehen sie ruhig auf, setzen sich erst einmal gemütlich mit der Familie vor das Nest und lassen sich von der Sonne bescheinen. Erst nach diesem Morgenritual machen sie sich auf, ihr Territorium abzuschreiten, um allfällige Eindringlinge zu vertreiben.
Anders die Striemengrasmäuse mit hohen Testosteronwerten. Sie sind Einzelgänger, die nicht durchsetzungsstark genug sind, um sich in eine Gruppe zu begeben. Sie schlafen alleine in einem eigenen Nest, und am Morgen, wenn sie aufstehen, rennen sie gleich los, in der Hoffnung, irgendwo auf ein begattungswilliges Weibchen zu stossen. Sie sind unruhig und streunen herum.
Die hohen Testosteronwerte der Herumstreuner bewirken jedoch nicht, dass diese aggressiv wären und sich mit den dominanten, grossen und sesshaften Männchen anlegen würden. Nähert sich ein Männchen, das sein Revier verteidigt, rennen die Herumstreuner davon. Dieses defensive Verhalten ist mit der Grund, weshalb man bei den Herumstreunern keine Bisswunden findet.
Doch birgt das Herumstreunen immer die Gefahr, in Schwierigkeiten zu geraten mit den Sesshaften. Die Herumstreuner nehmen dieses höhere Risiko auf sich, ohne aggressiver zu werden. Das ist vermutlich die wichtigste Auswirkung ihrer höheren Testosteronwerte. Vergleichen könnte man das mit jungen ungebundenen Menschenmännern, die auch die höchsten Testosteronwerte aufweisen und sich ebenfalls gerne in risikoreiche Situationen begeben, zum Beispiel Bungee jumping machen oder Freeclimbing.
Die Stunde der testosteronreichen Herumstreuner schlägt dann, wenn ein dominantes, grosses Männchen mit Weibchen einem Feind zum Opfer fällt, beispielsweise einem Schakal, einer afrikanischen Wildkatze oder einem Felsenbussard. Dann steht kein Nestverteidiger an der Territoriumsgrenze und die übrig gebliebenen Weibchen lassen sich eher auf den Eindringling ein. Wahrscheinlich paaren sich die Weiblichen eher mit sozial freundlichen und grossen Männchen, die dominant, aber nicht aggressiv sind, vermutet der Zoologe Carsten Schradin von der Universität Zürich.
Sobald die Herumstreuner sesshaft werden, verändert sich ihr Testosteronspiegel. Relativ schnell, bereits nach einer Woche, ist er auf das Niveau eines Familienvaters gesunken. Auch andere Hormone, wie Prolaktin, ändern sich vermutlich mit der Sesshaftigkeit. Ob das der Fall ist, wird derzeit von Carsten Schradins Team in einer Freilandstudie in der Sukkulentenkaroo in Südafrika und bei einer Mauspopulation im Labor der UZH weiter untersucht. Ebenfalls soll im Labor verifiziert werden, ob Testosteron tatsächlich die Bereitschaft zu riskantem Verhalten steigert, wie im Freilandversuch beobachtet wurde.
Die Striemengrasmäuse zeigen damit eine ganz eigene Ausprägung des Zusammenspiels von Hormonen und Sozialverhalten. Bei den meisten anderen Säugetieren beobachtet man, dass die grossen, dominanten Männchen höhere Testosteronwerte aufweisen als die kleineren, untergeordneten Männchen und aggressiver und weniger sozial sind.
Die Striemengrasmäuse überraschen auch noch in einem anderen Bereich: Sie sind in ihrem Verhalten flexibler als andere Säugetiere. Sie sind nicht auf eine einzige Verhaltenstaktik eingespurt. Die Striemengrasmäuse können ihr Jugendalter als Herumstreuner verbringen und sich mit der Zeit niederlassen, eine Familie gründen und sich zu sozialen und engagierten Vätern mit niedrigen Testosteronwerten wandeln – ganz wie die Menschenmännchen auch.