Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Entwicklungspädiatrie

«Autoritär zu erziehen, ist falsch»

Langzeitstudien am Kinderspital zeigen auf, wie sich Kinder entwickeln. Am besten gedeiht der Nachwuchs, wenn individuelle Anlage und Umwelt im Einklang sind, sagt der Entwicklungspädiater Oskar Jenni.
Roger Nickl

«Ein bestimmtes Erziehungskonzept, das sich bei einem Kind bewährt, kann beim nächsten zu auffälligem Verhalten Anlass geben», sagt der Entwicklungspädiater Oskar Jenni.
Die Zürcher Longitudinalstudien zur kindlichen Entwicklung am Kinderspital, die Sie seit  2006 leiten, haben in den letzten Jahrzehnten die Grundlagen für eine positive körperliche und geistige Entwicklung von Kindern erforscht. Welche Bedingungen brauchen Kinder, um sich optimal zu entwickeln?

Oskar Jenni: Eine optimale Entwicklung kommt dann zustande, wenn eine Übereinstimmung zwischen den Eigenheiten und Fähigkeiten eines Kindes einerseits und den Erwartungen, Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt andererseits besteht.

Wir machten in den Zürcher Longitudinalstudien ähnliche Beobachtungen wie zuvor Alexander Thomas und  Stella Chess in der New Yorker Longitudinalstudie. Es wurde deutlich, dass besondere kindliche Eigenheiten nicht zwangsläufig zu Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen führen, sondern dass die Umwelt entscheidend beeinflusst, wie die Eigenschaften eines Kindes sich auf die langfristige Entwicklung auswirken. Mit anderen Worten: Eine kindliche Auffälligkeit ist nicht an sich ein Problem, problematisch ist allenfalls, wie das Umfeld damit umgeht und welche Erwartungen die Bezugspersonen haben.

Lassen Sie mich ein Beispiel machen: Ein sehr aktives Mädchen, das zusammen mit drei Brüdern in einer Bergbauernfamilie aufwächst, wird als weniger «gestört» wahrgenommen wie dasselbe Mädchen als Einzelkind einer Akademikerfamilie in einer städtischen Umgebung. Eine fehlende Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt – wir sprechen in diesem Fall von einem Misfit – kann ein fehlangepasstes Verhalten oder eine gestörte Entwicklung zur Folge haben.

Auf Grund dieser Erkenntnis hat mein Vorgänger Remo Largo das Passungsmodell von Thomas und Chess zum Fit-Konzept erweitert, das wir bei der Elternberatung in unserer Poliklinik verwenden.

Wie kann sich denn aus einem Misfit zwischen Kind und Eltern eine Verhaltensstörung entwickeln?

Jenni: Nehmen wir zum Beispiel das Schlafverhalten eines Kindes. Der häufigste Grund für eine kindliche Schlafstörung ist nicht eine körperliche oder psychische Erkrankung des Kindes oder ein elterliches Erziehungsproblem, sondern falsche Erwartungen der Eltern.

Gerade punkto Schlafverhalten haben Eltern oft ziemlich fixe Vorstellungen. Sie gehen etwa davon aus, dass ein zweijähriges Kind nachts elf Stunden schläft, was für einen Teil der Kinder auch zutrifft. Gewisse Kinder schlafen sogar 13 Stunden, was deren Eltern als sehr angenehm empfinden. Andere kommen aber mit neun Stunden Schlaf pro Nacht aus.

Wenn sich ihre Eltern nicht auf den individuellen Schlafbedarf des Kindes einstellen, kommt es zu einem Misfit: Sie behalten das Kind länger im Bett, als es schlafen kann, und provozieren dadurch Schlafstörungen. Das Kind hat abends Mühe mit dem Einschlafen, wacht nachts auf oder ist am Morgen in aller Frühe wach.

Meine Mitarbeiterin Helene Werner hat im Rahmen ihrer Dissertation empirisch untersucht, wie sich die Diskrepanz zwischen dem kindlichen Schlafverhalten und den elterlichen Erwartungen auswirken. Was sie zeigen konnte: Je grösser der Unterschied zwischen der Erwartung der Eltern und dem Ist-Zustand des Kindes ist, desto höher ist die elterliche Belastung. Misfits führen also zu einem höheren  erzieherischen Aufwand, zu einer Belastung der Familie und letztlich zu einer Verhaltensstörung des Kindes.

Kommen wir auf das Thema Erziehung zu sprechen: Viele Eltern, halten Sie in einem Text, den Sie gemeinsam mit Remo Largo geschrieben haben, fest, sind als Erzieher zutiefst verunsichert und hungern nach guten Ratschlägen. Woher stammt diese Verunsicherung?

Jenni: Im 20. Jahrhundert haben Entwicklungstheorien wie zum Beispiel der Behaviorismus oder die Bindungstheorie einen einseitig umweltbezogenen Standpunkt bevorzugt. Diese Theorien besagen, dass die individuellen Entwicklungsunterschiede von Kindern eine Folge der pädagogischen Methode oder eine Konsequenz des Betreuungs- oder  Erziehungsstils sind.

Diese Auffassung geniesst bis heute grosse Popularität, wenn man etwa an autoritäre Erziehungsstile denkt. Zieht man allerdings das Fit-Konzept in Betracht, kommt man zum Schluss, dass ein Erziehungsstil nur so gut ist, wie er den Eigenheiten des einzelnen Kindes Rechnung trägt. Das bedeutet, dass es einen optimalen Erziehungsstil gar nicht geben kann.

Ein bestimmtes Erziehungskonzept, das sich bei einem Kind bewährt, kann beim nächsten zu auffälligem Verhalten Anlass geben. Kinder sind in ihren Eigenschaften so verschieden, dass es keine allgemeingültigen Normen geben kann. Das verunsichert Eltern, aber auch uns Fachleute. Denn wir möchten lieber allgemeingültige Rezepte. Die gibt es aber nicht.

Die zahlreichen Elternratgeber sind also alle nutzlos?

Jenni: Nicht unbedingt. Sie helfen allerdings nur einer beschränkten Zahl von Kindern und Eltern. Was für das eine Kind gut sein mag, gilt nicht unbedingt für ein anderes. Konkrete Ratschläge dürfen darum nicht generalisiert werden. Erziehung ist etwas sehr Individuelles. Natürlich können und sollen sich Eltern auch Hilfe aus Fachbüchern holen. Wichtig ist dabei aber, dass sie vor lauter Tipps ihr Kind nicht aus den Augen verlieren.

Wie können Eltern auch ohne Patentrezepte zu mehr erzieherischer Sicherheit gelangen?

Jenni: Eltern sollten Vertrauen in das Entwicklungspotenzial ihres Kindes haben und seine Bedürfnisse berücksichtigen. Das bedeutet ihre Anforderungen richten sich nach dem Entwicklungsstand und den individuellen Stärken und Schwächen des Kindes. Hält man sich daran, werden sich Entwicklungsfortschritte einstellen, die dem Kind das Gefühl von Kompetenz geben und Selbstwert erzeugen.

Ein autoritärer Erziehungsstil alter Schule könnte für verunsicherte Eltern ein willkommener Rettungsanker sein. Und autoritärere Erziehungsprinzipien scheinen heute auch wieder an Boden gewonnen zu haben. Hat das auch damit zu tun, dass Eltern von einem sehr liberalen, individuellen Erziehungsstil überfordert werden?

Jenni: Das ist denkbar. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass die autoritäre Erziehungshaltung von einer grossen Bedeutung der Umwelt ausgeht – vom Gedanken, primär das Umfeld präge die Entwicklung eines Kindes. Diese Ansicht ist falsch. Entwicklung findet in Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt statt. Wir müssen dabei eine Passung zwischen diesen beiden Entwicklungsvoraussetzungen sicherstellen.

Was sind denn die negativen Folgen eines autoritären Erziehungsstils?

Jenni: Es gibt in der Zwischenzeit eine Reihe von Studien darüber. So hat zum Beispiel das Nationale Forschungsprogramm «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» des Schweizerischen Nationalfonds gezeigt, dass ein autoritärer Erziehungsstil zu einem geringeren Selbstwertgefühl, weniger Sozialkompetenz und einer schlechteren schulischen Integration der Kinder führt.

Weiterführende Informationen