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«Ich? Ich bin die Direktorin», stellte sich Mareile Flitsch kurz vor Beginn der Vernissage einem verdutzten Besucher vor – noch ist die Neue an der Spitze des Völkerkundemuseums kein bekanntes Gesicht. Doch dies wird sich bald ändern. Locker parlierend wandte sich Flitsch an die Gäste im berstend vollen Hörsaal. Schon mit ihrem ersten öffentlichen Auftritt als neue Direktorin bewies sie, dass sie hiesige Gepflogenheiten schnell verinnerlicht: «Beginnt man hier um Punkt oder um Viertel nach?», erkundigte sich die Berliner Ethnologin und Sinologin, bevor sie zum Rednerpult schritt, und entschied sich dann für einen gut schweizerischen Kompromiss: zehn nach sechs.
Flitsch zitierte die expressionistisch reimende Künstlerin Else Lasker-Schüler, die bereits 1906 der tibetischen Teppichkunst verfallen war: «Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit / Maschentausendabertausendweit». Heute, hundert Jahre später, hat sich nicht nur Tibet grundlegend verändert, sondern auch dessen Teppiche. Die Ausstellung erzählt diese Verlustgeschichte: Sie zeigt die althergebrachte Erscheinungsform einer materiellen Alltagskultur in Exponaten von berauschendem Motiv- und Farbenreichtum. Und sie erzählt im Anschluss daran die Geschichte des modernen «Nepal-Tibeters», der den (Exil)Tibetern als Exportgut Wohlstand bringt, aber als Kulturgut bedeutungslos geworden ist.
Flitsch drückte ihre Wertschätzung für eine besondere Tradition des Zürcher Völkerkundemuseums aus: den Museologiekurs. Vier Studierende der Ethnologie, Betty Beer Schuler, Elisa Bühler, Christoph Müller und Su Ruggli, hatten in viersemestriger Vorbereitung die Ausstellung erarbeitet. Begleitet wurde der Kurs bis kurz vor Ende von Martin Brauen, damals Tibet-Kurator und interimistischer Direktor des Völkerkundemuseums, seit diesem Sommer Chief Curator am Rubin Museum of Arts in New York. Der Abend markierte so auch einen Epochenwechsel. Denn Flitsch kündigte an, sie wolle den Schwerpunkt ihrer künftigen Ausstellungsarbeit vermehrt auf ethnologisch-technologische Aspekte der Sachkultur legen.
Brauen, aus New York angereist, führte persönlich in die letzte von ihm verantwortete Ausstellung ein. Auch er betonte die Einmaligkeit des Zürcher Museologiekurses. Zwar stehe er jetzt einem Museum vor, das fünfmal mehr Budget und eigene Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit, Museumspädagogik und Sponsorensuche habe. Ein Bildungsangebot wie in Zürich jedoch, das gebe es in New York nicht. Der Museologiekurs habe in über dreissig Jahren 27 studentische Ausstellungen hervorgebracht. Brauen sieht darin eine Chance für angehende Berufsleute: Sie übten sich in die Teamarbeit ein und erlangten soziale Kompetenzen, wie es die Schreibarbeit in der Studierstube nicht ermögliche.
Die tibetischen Knüpfteppiche sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich mittels materieller Kultur Inhalte geistiger und historischer Art darstellen lassen. So sind die Teppiche reich an Symbolen, Zeichen, Mustern und Medaillons, die auf die konkrete und religiöse Lebenswelt ihrer Schöpfer verweisen. Der blaue Drachen auf einem Schlafteppich etwa versinnbildlicht hohen Rang, Kraft und Güte, das Tigermuster eines Meditationsteppichs evoziert Furchtlosigkeit und einen starken Willen. Der motivische Reichtum – von Chrysanthemen über mythische Tiere bis hin zu buddhistischen Glückssymbolen – belegt den regen Austausch mit benachbarten Regionen.
Ferner bewahren die tibetischen Teppiche die Erinnerung an einen komplexen handwerklichen Prozess: Sie wurden auf Hochwebstühlen unter Verwendung eines Knüpfstabs gefertigt, eine Methode, die ein effizientes Arbeiten erlaubt und Wolle spart. Und sie dokumentieren den Wandel einer kulturellen Tradition zum Zeitpunkt ihres Einmündens in die globalen Handelsströme: Die Teppiche wurden in den 60er-Jahren zum westlichen Wunschprodukt, an dem heute kaum mehr etwas tibetisch ist, weder die Wolle noch die Farben noch die Motive. Schweizerische Entwicklungshelfer halfen damals beim Aufbau der Manufakturen – das Projekt gilt heute als eines der finanziell erfolgreichsten, wie ein Ausstellungsteil ganz am Schluss erläutert.
In den Ausstellungsräumen konnte man sich sodann ganz hinwegtragen lassen von der Schönheit, Ausdrucksstärke und Leuchtkraft der Exponate. Drachen winden sich kunstvoll auf buschig-weicher Unterlage, Pferdesatteldecken gleichen blühenden Blumengärten und Kraniche tanzen wie Iwanows vier kleine Schwäne in perfekter Symmetrie über einen Kissenbezug. Besonders schätzt man, dass sämtliche Exponate ohne Vitrinen dargeboten werden. Der Blick kann so ungehindert über die feine Textur der textilen Meisterwerke gleiten.