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Bei der Erforschung der menschlichen Evolutionsgeschichte werfen die nur spärlich vorhandenen und fragmentarisch erhaltenen Fossilfunde oft mehr neue Fragen auf, als sie alte beantworten. Manchmal sind wir aber in der glücklichen Situation, dass sich ein einzelner Fossilfund als Schlüsselobjekt erweist, dank dem es möglich ist, eine ganze Reihe von offenen Fragen mit einem Mal zu klären. Beim Neandertaler-Neugeborenen aus der Mezmaiskaya-Höhle in der Krim handelt es sich um einen solchen Fund.
Allein schon die Tatsache, dass ein solch fragiles Fossil nach etwa 40’000 Jahren Ruhezeit in den eiszeitlichen Höhlensedimenten wohlbehalten geborgen werden konnte, ist erstaunlich. Dieses Neandertalerkind, das kurz nach der Geburt starb, war offensichtlich so sorgfältig begraben worden, dass es von Aasfressern unberührt blieb und ihm nicht einmal der Druck der meterhohen Sedimente viel anhaben konnte.
Das Mezmaiskaya-Kind ist bis heute der einzige wirklich gut erhaltene Fund eines neugeborenen fossilen Menschenartigen, und damit ist auch bereits ein Teil seiner Schlüsselstellung erklärt. Welche Fragen lassen sich nun mit seiner Hilfe beantworten? Es geht darum, herauszufinden, wie sich im Lauf der Evolution die sehr spezielle Art der menschlichen Individualentwicklung herausgebildet hat. Die Geburt ist ein entscheidender Vorgang im Leben eines jeden menschlichen Wesens, sei es nun ein Homo sapiens oder ein Neandertaler. Sie ist gewissermassen der Referenzpunkt, von dem aus sich unsere vor- und nachgeburtliche Entwicklung mit der der fossilen Hominiden und der unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen, vergleichen lässt.
Das Mezmaiskaya-Baby gibt neue Antworten auf viele alte Fragen. Nach der computerunterstützten Rekonstruktion des Skeletts aus 141 Einzelteilen lässt sich feststellen, dass sein Gehirn bei der Geburt genau so gross war wie das eines typischen menschlichen Neugeborenen. Es hatte ein Volumen von etwa 400 Kubikzentimetern. Das Skelett war aber bedeutend robuster ausgebildet als das eines modernen menschlichen Neugeborenen. Was hatte das für Konsequenzen für die Neandertaler-Geburt?
Es gibt nur ein einziges relativ vollständiges weibliches Neandertalerbecken. Es wurde bereits in den 1930er Jahren in der Tabun-Höhle im heutigen Israel gefunden, aber der Zufall wollte es, dass ausgerechnet die Teile wenig gut erhalten waren, die eine zuverlässige Rekonstruktion des Geburtskanals erlauben würden. Mit Hilfe von computergestützten Rekonstruktionsmethoden und unter Verwendung der Mezmaiskaya-Daten konnten wir präzisere Aussagen über das Becken dieser Neandertalerfrau machen: Ihr Geburtskanal war zwar weiter als der einer Homo-sapiens-Mutter, aber der Kopf des Neandertaler-Neugeborenen war wegen seines relativ robusten Gesichts etwas länger als der eines menschlichen Neugeborenen.
Somit war bei den Neandertalern die Geburt wohl ein ähnlich schwieriger Prozess wie bei unserer eigenen Art. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Neugeborenen-Gehirngrösse von 400ccm um ein «evolutionäres Geburtslimit», das bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Neandertaler erreicht worden war. Das würde bedeuten, dass wir bereits seit einer halben Million Jahre einen hohen evolutionären Preis in Form von Geburtsproblemen für unser grosses Gehirn zahlen.
Eine weitere Frage, auf deren Beantwortung wir schon lange gewartet hatten, betrifft die Entwicklung der Artunterschiede zwischen uns und den Neandertalern. Ein Vergleich der dreidimensionalen Schädelform zeigt, dass das Mezmaiskaya-Neugeborene bereits alle wesentlichen Neandertaler-Merkmale aufweist. Damit müssen also die Artunterschiede bereits während der embryonalen oder fötalen Entwicklung entstanden sein. Dieser Befund bestätigt eine Grundregel der evolutionären Entwicklungsbiologie: neue Arten entstehen durch genetische Veränderungen im frühen Entwicklungsprogramm.
Wie sieht es mit der nachgeburtlichen Entwicklung aus? Zusätzlich zum Mezmaiskaya-Neugeborenen untersuchten wir weitere Neandertaler-Kinder bis zu einem Alter von etwa 4 Jahren (dann ist das Gehirnwachstum praktisch abgeschlossen). Besonders wichtig waren zwei Neandertaler-Kinder aus der Dederiyeh-Höhle (Syrien), die im Alter von 19 bzw. 24 Monaten starben und ebenso sorgfältig begraben wurden wie das Mezmaiskaya-Baby. Sie erzählen uns eine erstaunliche Geschichte: das Neandertaler-Gehirn wuchs noch schneller als das des Homo sapiens.
Dies ist ein Befund, der zu denken gibt. Viele Forscher schliessen nämlich aus dem schnellen Wachstum der Neandertaler, dass sie eine kürzere Lebensspanne und höhere Mortalität als wir hatten, nach dem Motto «live fast, die young». Nun zeigen aber unsere Untersuchungen, dass dies ein Fehlschluss ist. Das Neandertaler-Gehirn wuchs zwar schneller als unseres, aber es musste im Schnitt ein grösseres Erwachsenenvolumen erreichen. Somit ist die Dauer des Hirnwachstums bei beiden Menschenarten gleich (dies ist wohl auch ein Merkmal unseres letzten gemeinsamen Vorfahrs).
Und nun kommt die Überraschung: vergleichende Untersuchungen an Primaten zeigen, dass es letztlich die Neandertalermütter waren, die für die zusätzliche Energie und Nahrung sorgen mussten, damit ihre Kinder rasch ein grosses Gehirn entwickeln konnten. Diese Extra-Energie war natürlich nicht gratis: die Mütter selbst brauchten mehr Zeit, bis sie selbst die nötige körperliche Konstitution entwickelt hatten, um diese Zusatzbelastung zu ertragen. Dadurch hatten sie etwas später ihr erstes Kind.
Wenn wir nun die gesamte Lebensgeschichte eines durchschnittlichen Neandertalers mit der eines durchschnittlichen modernen Menschen vergleichen, ergibt sich ein Bild, das erheblich von der Lehrmeinung abweicht: Die Entwicklung der Neandertaler war wohl ebenso langsam wie die des modernen Menschen, wenn nicht sogar etwas langsamer.
Trotz bedeutender körperlicher Unterschiede zwischen Mensch und Neandertaler seit der Geburt gehorchen letztlich beide Arten denselben Einschränkungen, die uns die Gesetze der Physiologie, Entwicklung und Evolution auferlegen: Was Geburt, Hirnentwicklung und Lebensgeschichte angeht, sind wir einander erstaunlich ähnlich.