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Alter

Dement – was nun?

Die Hälfte aller Demenzkranken in der Schweiz wird zu Hause betreut. Angehörige geraten schnell einmal an den Rand ihrer Kräfte. Deshalb sollte öffentliche Hilfe besonders auf die Wünsche der Betreuenden ausgelegt werden, zeigt die Zwischenbilanz einer Studie des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich.
Marita Fuchs

«Ist das jetzt der Pfauen?» fragt die alte Dame immer wieder, obwohl kurz zuvor der Tramfahrer deutlich die Haltestelle angekündigt hat. Wo sie denn aussteigen wolle, erkundigt sich ein Mann. Die Frau zögert, dann antwortet sie: Das weiss ich nicht mehr.

Gegen Altersdemenz ist bislang kein Kraut gewachsen. Je älter man wird, desto grösser die Gefahr, dem Leiden anheim zu fallen. Von den 70- bis 74-Jährigen sind in der Schweiz gemäss Schätzungen der Schweizerischen Alzheimervereinigung vier Prozent betroffen, von den über 90-Jährigen bereits 33 Prozent. Frauen erkranken häufiger als Männer. Insgesamt leben in der Schweiz etwa 100‘000 Demenzkranke. Im Jahr 2040 werden es doppelt so viele sein.

Alter Mann vor Aufzug

Das hat nicht nur volkswirtschaftliche, sondern auch gesellschaftspolitisch weitreichende Konsequenzen, meint Altersforscher Hans Rudolf Schelling vom Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Denn mehr als ein Drittel der über 80-jährigen wird erwartungsgemäss pflegebedürftig werden. Die Hälfte aller Demenzkranken in der Schweiz wird zu Hause gepflegt.

Ergebnisse am runden Tisch diskutieren

Die Lebenssituation von Betreuenden, die Demenzkranke zu Hause versorgen, steht im Mittelpunkt einer Studie des Zentrums für Gerontologie, die massgeblich von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Caroline Moor durchgeführt wird. Mit 67 umfangreichen Interviews, Tagebuchauswertungen und Befragungen vor Ort analysierten die Forschenden die häusliche Betreuung von Demenzkranken im Kanton Zürich und befragten Angehörige, Partner oder Partnerinnen. Schelling und Moor legen nun erste Ergebnisse für die Öffentlichkeit vor.

Die Studie ist durch den Einbezug eines so genannten «Rundes Tisches Science et Cité» breit angelegt: Neben den Forschenden sind Praktikerinnen aus der Pflege, Ärzte und auch Angehörige selbst involviert. In regelmässig stattfindenden Treffen werden Arbeitsergebnisse besprochen. «Der runde Tisch soll helfen, dass wir Forschende den Blick auf die Praxis nicht verlieren und die Forschungsergebnisse mit Personen aus der Praxis diskutieren», erklärt Schelling.

Altes Paar

Unterstützung durch ein soziales Netz

In ihrer Untersuchung stellen sie fest, dass nur ein kleiner Teil der befragten Angehörigen gar keine Hilfe von aussen in Anspruch nimmt. Die meisten Angehörigen stützen sich auf unbezahlte oder bezahlte Hilfe durch Familie, Freunde oder Nachbarn. Diese private Hilfe ist deshalb für die Angehörigen besonders wertvoll, weil sie flexibel und spontan erfolgt.

Anders als spontane Hilfe benötigt die professionelle Unterstützung durch Spitex, Tages- und Nachtkliniken oder Feriendienste eine lange Planung. Die Angehörigen von Demenzkranken nehmen auch diese Dienste in Anspruch. Sie sind gut informiert über das Betreuungsangebot, bemängeln jedoch die zeitliche Starre des Angebots oder die Distanz zum Wohnort und sie scheuen den finanziellen Aufwand.

Grenzen der häuslichen Betreuung

«Die Angehörigen zeigen ein insgesamt grosses Engagement und stehen praktisch rund um die Uhr den Kranken zur Seite», stellt Caroline Moor fest. «Allerdings geraten sie auch an ihre Grenzen, so fehlt es den Angehörigen, unabhängig von den individuellen Lebensumständen, an Zeit für sich selbst und für die Pflege sozialer Kontakte.» In Zahlen ausgedrückt leisten betreuende Angehörige gemäss einer Erhebung der Schweizerischen Alzheimervereinigung im Durchschnitt täglich etwa 5.7 Stunden Betreuungsarbeit, dazu kommen die Leistungen von Freunden und Nachbarn, die sich durchschnittlich 104 Stunden pro Jahr engagieren.

Die Befragten beschreiben das Zusammenleben mit Demenzkranken im eigenen Haus als kräftezehrend. «Wer alte Angehörige betreut, steht dann vor einer Aufgabe, deren Grösse gar nicht einzuschätzen war. Da ist der vertraute Ehepartner plötzlich so verwirrt, dass er auf jedem Gang begleitet werden muss. Oder das Bett muss dreimal des Nachts neu bezogen werden, diese Wäsche zu waschen, fällt zusätzlich an», beschreibt Moor die Situation Betroffener. Auf die Frage: Können Sie sich eine Situation vorstellen, wo sie mit der Betreuung aufhören würden? nennen viele, dass es zu viel wird, wenn der Kranke die Kontrolle über Darm und Blase ganz verliere.

Stabile Lebensqualität

Trotzdem bleibe, wie Moor und Schelling zeigen, die Lebensqualität der betreuenden Angehörigen relativ stabil. Sie sei jedoch abhängig von der psychischen Befindlichkeit des einzelnen. «Ist die betreuende Person psychisch gesund und holt sie sich Hilfe von aussen, verkraftet sie die Belastungssituation mit einer demenzkranken Person recht gut», stellt Moor fest. Auch die Tiefe der Beziehung zur kranken Person spiele eine Rolle, sei sie intensiv und eng werde die Belastung nicht so stark empfunden. Der runde Tisch schlägt zur Unterstützung der Angehörigen eine psychologische Betreuung als festes Angebot vor.

Noch leben fünf von zehn Demenzkranken in Privathaushalten. Die Übrigen sind in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht, wo knapp jeder Zweite an einer Demenz leidet. Politiker, Planer und Betreiber von Alters- und Pflegeheimen müssen sich in Zukunft klar werden, welche Angebote sie Betreuenden und den Demenzkranken machen möchten, sagt Schelling. In einer weiteren Auswertung werden er und Caroline Moor zusammen mit dem runden Tisch praktische Vorschläge für den Kanton Zürich entwerfen, wie diese Zukunft aussehen könnte. Die Ergebnisse werden im Laufe des Jahres 2009 veröffentlicht.

Weiterführende Informationen

Literatur

Buchtipp zum Thema: Martin, Mike & Schelling, Hans Rudolf (Hrsg.). (2005). Demenz in Schlüsselbegriffen. Grundlagen und Praxis für Praktiker, Betroffene und deren Angehörige. Bern: Hans Huber, ISBN: 3-456-84191-4, CHF 52.50.