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Mittwoch morgen, elf Uhr in Buenos Aires, Argentinien: wie immer um diese Zeit erhält Federico Bruzzone die Einladung zu einer Konferenz-Schaltung über den Internet-Telefonie-Dienst Skype. Den gleichen Skype-Ruf erhält auch Matt Malczycki, Professor an der American University in Kairo. Seine Uhr zeigt fünf Uhr am Abend. «Hello Matt, can you hear me?» Die Frage kommt von Islamwissenschaft-Professor Andreas Kaplony. Er sitzt in seinem Büro an der Universität Zürich und hat um 16 Uhr Ortszeit den Konferenz-Ruf für seine Webclass über arabische Papyrus-Briefe gestartet.
Sechs von neun Studierenden, meist Doktorierende, haben sich in der Zwischenzeit per Skype gemeldet. Neben Federico und Matt ist auch Stefanie aus Leipzig mit dabei. Eva, Sarah und Ayman aus Zürich sind ebenfalls online. Obwohl sie sich wie Kaplony am Orientalischen Seminar in Zürich befinden, sitzen sie jeder für sich in einem Büro und sind über Skype mit den Anderen verbunden.
Die Frühaufsteherin der Gruppe, Mona aus Victoria in Westkanada – Lokalzeit sieben Uhr früh – meldet sich nicht. «Mona hat die Schulter gebrochen, deshalb fehlt sie heute», orientiert Kaplony die übrigen Studierenden. Auch Emily aus Paris und Lucian aus Wien bleiben trotz wiederholter Anfragen stumm.
Auf vier Kontinente und mehrere Zeitzonen ist die Webclass also verteilt. «Das ist 'four-continental teaching'», meint Kaplony dazu. Obwohl sich die meisten nur vom Hören kennen, werden zu Beginn erst einmal Neuigkeiten ausgetauscht. «Der Small-Talk am Anfang ist wichtig, damit trotz der Distanz ein Klassengefühl aufkommt», erzählt Kaplony.
Stefanie will zum Beispiel wissen, was Matt nach seiner Rückkehr in die USA macht, und ob er die Möglichkeit hat, seine Papyrologie-Forschung weiter zu betreiben. «An meiner Universität werden sich drei Leute mit Arabisch befassen – mich eingeschlossen», meint Matt. Umso mehr schätzt er es, dass er – dank der «Webclass» und modernen Online-Datenbanken – den Austausch mit Fachkolleginnen und Fachkollegen pflegen kann.
Nach der «Aufwärm-Runde», die auch dazu dient, die Verbindungen zu testen, geht es richtig zur Sache: Die «Webclass» übersetzt noch unveröffentlichte Papyrus-Schriften aus der Sammlung der Universität Yale. Bei den Papyrus-Fetzen handelt es sich um Alltagsdokumente wie Briefe, Verträge, private Notizen oder Steuerquittungen. Sie stammen hauptsächlich aus Aegypten aus dem Zeitraum von 640 – 1500.
Kaplony hat in einer ersten Sichtung eine Reihe von Briefen ausgewählt. Er hat erst eine grobe Vorstellung von ihrem Inhalt und hofft, dass die Briefe nach genauer Übersetzung einen Mosaikstein zum Bild des Alltagslebens in der frühen muslimischen Gesellschaft hinzufügen. In der Webclass geht es darum, die Schriftstücke, meist nur als Fragmente oder sonst lückenhaft erhalten, zu entziffern und zu übersetzen.
Dank einer speziellen Konferenz-Software können alle Studierenden auf ihrem Computer den Bildschirm von Andreas Kaplony sehen und darauf digitale Notizen anbringen. Kaplony hat zwei BiIder mit der Vorder- und Rückseite eines Stücks Papyrus geöffnet. «Was sehen wir hier, Federico?», fragt er nach Buenos Aires. Federico beschreibt eine Besonderheit des Stücks: Als «Briefpapier» wurde ein Teil eines älteren Papyrus verwendet. Die Notiz, um die es geht, steht auf dessen Rückseite. Und noch etwas fällt Federico auf: «Die Kalligraphie ist schrecklich. Entweder war es ein ungeübter Schreiber oder jemand war sehr in Eile», vermutet er.
Kaplony möchte wissen, was die anderen meinen: ungeübter Schreiber oder eiliges Schreiben? «We do it the Swiss way», erklärt er. Das heisst, es wird abgestimmt. Wer für die erste Lösung ist, soll sein Kürzel links auf den Bildschirm zeichnen, die anderen rechts. Langsam füllt sich Kaplonys Bildschirm mit den farbigen Kürzeln seiner Studierenden; der Trend ist eindeutig: links überwiegt.
Stefanie beginnt mit Lesen. Der Anfang ist kein Problem, es sind übliche Anredeformeln zu Beginn eines Briefes. Bei der dritten Zeile muss sie kapitulieren: zu viele Lücken, zu viele Unklarheiten. Die anderen sind ebenfalls noch ratlos, die Zeile wird deshalb vorerst übersprungen. Auch im Rest des Briefes fehlen immer wieder Buchstaben oder Teile von Buchstaben, die das Entziffern erschweren.
Zu welchem Buchstaben könnte ein unvollständig erhaltener Strich gehören, welche Wörter liessen sich damit bilden? Die Diskussion ist angeregt, Fragen und Lösungsvorschläge werden erörtert, Thesen formuliert. Die grosse geografische Distanz zwischen den Studierenden geht dabei völlig vergessen. Die Webclass ist nun ein einziger virtueller Seminarraum und obwohl jeder alleine vor seinem Computer sitzt, arbeiten alle gemeinsam am gleichen Problem.
«Dieses Wort kenne ich nur aus dem modernen Arabisch», meint Matt, während er eine Zeile übersetzt. «Es heisst soviel wie 'Gesellschaft'. Passt das hier?» In ihrem Zürcher Büro steht Eva auf, holt sich das Wörterbuch aus dem Regal und schlägt das Wort nach: «Es könnte 'Gruppe' oder 'Gemeinschaft' bedeuten», meldet sie Matt via Skype zurück.
Am Ende des zweistündigen Seminars steht das Gerüst der Übersetzung: Bei dem Dokument handelt es sich um eine Art Empfehlungsbrief für eine Witwe. Eine nicht näher beschriebene Gemeinschaft soll die Frau aufnehmen und sie unterstützen. «Der Brief ist ein frühes Zeichen für Solidarität unter Muslimen», folgert Kaplony.
Der kleine Papyrus-Fetzen kann den Wissenschaftlern also etwas über soziale Strukturen in frühen muslimischen Gemeinschaften erzählen. «Diese unscheinbaren Alltagsdokumente leisten einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis der Gesellschaft und damit auch der literarischen und religiösen Schriften», erklärt Kaplony die Bedeutung der Papyrologie.
Dennoch beschäftigen sich weltweit nur sehr wenig Orientalisten damit. 130'000 Dokumente aus der Zeit von 640 – 1500 sind weltweit erhalten. 2000 davon sind bisher so aufgearbeitet, dass sie für die Forschung zugänglich sind. Ein kleiner Teil davon ist erst übersetzt.
Viel Arbeit also für eine kleine Zahl an Forschenden. Dank der Webclass kann Kaplony an der Universität Zürich eine Lehrveranstaltung zu diesem Thema anbieten. «Alleine mit meinen drei Studierenden in Zürich wäre dies nicht möglich», sagt er. So hilft die Technologie des 21. Jahrhunderts, der Alltagswelt des 8. Jahrhunderts näher zu kommen.