Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Vortragsreihe «Weiter denken»

Die Gesamtwirklichkeit des Elefanten

Die Philosophische Fakultät der Universität Zürich feierte deren 175jähriges Jubiläum mit der achtteiligen Vortragsreihe «Weiter denken. Von der Antike zur Moderne».
David Lätsch

Eine beliebte Illustration für die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen stellt die Wirklichkeit als einen Elefanten dar und die Menschen als Blinde, die diesen Elefanten betasten. Unser Verständnis von der Gesamtwirklichkeit des Elefanten wird davon abhängen, wo wir tasten. Der Eine wird den Rüssel für den Elefanten nehmen, der Nächste die Bauchpartie und ein Dritter den linken Ohrlappen. Ein universales Bild entsteht so nicht.

Wie sieht die Gesamtwirklichkeit des Elefanten aus?

Ein universales Bild der Wirklichkeit darf man – trotz des Namens – auch von einer Universität nicht erwarten, weniger noch von einer einzelnen Fakultät. Aber ihre Aufgabe könnte es sein, die verschiedenen Tasterlebnisse und Tastergebnisse der Blinden wenigstens so zusammenzuführen, dass sich ein möglichst umfassendes Bild ergibt. Vom Universitären fehlte dann zum Universalen nicht mehr gar so viel.

Im Rahmen der Vortragsreihe «Weiter denken. Von der Antike zur Moderne» zeigten Professorinnen und Professoren der Philosophischen Fakultät auf, wie eine solche Universalität erreicht werden könnte. Sie demonstrierten damit ein «Weiter denken» nicht nur im Sinn eines beharrlichen Fortschreitens in der je eigenen Reflexion. Dieses «Weiter» gab sich zu verstehen als das Bemühen um fruchtbare Grenzüberschreitung, um ein Hinausdenken über die Limitationen des einzelnen Faches.

Als Organisatoren waren die Professoren Brigitte Boothe (Klinische Psychologie) und Ueli Gyr (Populäre Kulturen) für die Programmation der insgesamt sechzehn Vorträge an acht Abenden von Anfang März bis Anfang April verantwortlich. Ein ausnehmend aufmerksames, unterschiedlich zahlreiches, dafür stets fragelustiges Publikum sorgte für angeregte Diskussionen.

Zukunft der Geschichte, Geschichte der Zukunft

Nur andeuten lässt sich die Vielfalt des Vorgetragenen. Als erstes Tandem der aus jeweils zwei Referaten komponierten Vortragsabende sprachen zwei der jüngsten Professoren der Fakultät, der Psychologe Mike Martin und der Soziologe Marc Szydlik, über die neusten Forschungsansätze in der Altersforschung. Der Historiker Jakob Tanner führte am folgenden Abend vor, dass nicht nur die Geschichte eine Zukunft, sondern auch die Zukunft eine Geschichte habe. Dabei hätten sich gerade die fiktional-phantastischen Vorstellungen, die sich Menschen etwa in der populären Malerei von der Zukunft machten, oftmals erfüllt, derweil vorgeblich nüchtern wissenschaftliche Prognosen kaum je eingetroffen seien. Sehr schön illustriert war das u.a. anhand der grafischen Darstellung eines «Bildtelefons» aus dem Jahr 1930, das unsere allgegenwärtigen Mobiltelefone – mutatis mutandis, wie zuzugegeben war – vorwegnimmt.

Von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der schweizerischen und österreichischen Kultur – und den glücklicherweise unfertigen Bildern, die sich österreichische Dichter von der Schweiz machen – sprach der Germanist Karl Wagner. Besonders faszinierend etwa die von Wagner berichtete Begegnung Franz Kafkas mit der Schweiz im Jahr 1911, als der Dichter sein von der helvetischen Literatur geprägtes Schweiz-Bild in der unmittelbaren Anschauung revidieren konnte. Kafka kam zu dem Ergebnis, dass er sich «bei der Beurteilung der Schweiz lieber als an Keller oder Walser, an Meyer halten» wolle.

Konnte sein Bild der Schweiz in eigener Anschauung überprüfen: Franz Kafka (1906).

In seinem Referat über «The sound of Italy» gab Michele Loporcaro, Professor für Italienische Linguistik, einen Einblick in die Methodik der italienischen Dialektforschung. Anhand zahlreicher Hörbeispiele nahm Loporcaro seine Zuhörer mit auf eine Reise durch ausgewählte Sprachlandschaften Italiens und der Südschweiz. Er wies darauf hin, dass die so genannten Dialekte genau wie die Sprachen als Sprachvarietäten aufzufassen seien; der Unterschied zwischen beiden sei eigentlich kein linguistischer, sondern ein politischer.

Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen sprach am gleichen Abend über die spannende Frage, in welchem Sinn Musik sich verstehen lässt. Man könne, so Hinrichsen, einerseits «Musik verstehen» und anderseits «etwas von Musik verstehen»; beide Formen des Verständnisses seien mitnichten identisch. Denn aus dem Vermögen zur praktischen Musikinterpretation (Musik verstehen) ergebe sich noch nicht das theoretische Verständnis «von» der Musik, das Wissen etwa um die inneren Zusammenhänge einer musikalischen Epoche mit der andern.

Hang zur Ironie

Die Ethnologin Shalini Randeria widmete sich der Frage, inwieweit die Globalisierung richtigerweise als neue Form des westlichen Imperialismus betrachtet werden kann, und kam zu einem differenzierten Urteil. Zwar sei der westlichen Aussen- und Wirtschaftspolitik inmitten der «Verschwommenheit transnationaler Praktiken des Regierens» teilweise tatsächlich ein neo-imperialistischer Zug zu attestieren. Gleichzeitig neigten aber Regierungen in den Entwicklungsländern dazu, unpopuläre eigene Massnahmen «listig» als fremd- bzw. westgesteuert auszugeben. Wie listig, nämlich latent anspielungsreich chinesische Künstler in ihren Werken einen Globalisierungsdiskurs führen, darüber sprach die Sinologin Andrea Riemenschnitter.

Der Altphilologe Christoph Riedweg wies – zur Verblüffung des Publikums – auf Parallelen zwischen dem römisch-christlichen Kulturkampf im ersten Jahrtausend n. Chr. und dem von Huntington diagnostizierten «Kampf der Kulturen» hin, den das öffentliche Bewusstsein gegenwärtig zwischen den westlichen Gesellschaften und den islamischen feststelle. Dabei lächelte er, als verrate die Geschichte dadurch, dass sie sich wiederhole, ihren Hang zur Ironie. Elisabeth Bronfen vom Englischen Seminar las am selben Abend aus ihrem neuen Buch «Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht», mochte sich aber mit zunehmender Dauer nicht mehr an das Gedruckte halten und bereicherte – zur Freude des Publikums – ihren Vortrag um eine Rede aus dem Stegreif, die an Flüssigkeit dem Vorgelesenen nicht nachstand.

Nahtlose Übergänge

Das Interesse der jüngeren Professoren Martin und Szydlik für Fragen des Alters glich ein älterer Kollege aus, der sich fruchtbar für Fragen der Jugend interessiert. Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik, zeigte in seinem Vortrag über den Bildungsbegriff auf, wie das allzu einseitige Egalitätsideal der OECD-Experten zu einem tendenziell unangemessenen Urteil über das schweizerische Bildungssystem – mit seiner dualen Berufsbildung – führt. Die Erwägung, dass Menschen sich selbst Bildung im Sinn persönlicher Kultiviertheit schuldig sind, leitete nahtlos zum zweiten Referat des Abends über. Der Philosoph Peter Schaber warf die Frage auf, ob Menschen nicht nur Pflichten anderen Menschen gegenüber, sondern auch «Pflichten gegen sich selbst» hätten, und offenbarte eine deutliche Neigung zur Bejahung des Letzteren.

Wagnersches Gesamtkunstwerk? Das Olympiastadion der Architekten Herzog de Meuron in Peking.

Die Frage, wohin es mit dem Wagner’schen Gesamtkunstwerk in der zeitgenössischen Kunst gekommen sei, beschäftigte den Kunsthistoriker Philip Ursprung. Er fand es in den besten Leistungen der Schweizer Architekten Herzog und de Meuron annähernd eingeholt. Zum Ausflug ins Populäre lud der Professor für Populäre Kulturen Ueli Gyr ein, der den Kitsch als von der Wissenschaft vernachlässigtes oder verworfenes Untersuchungsobjekt entschieden verteidigte. Das Kitschige sei keine Eigenschaft, die man Dingen objektiv zuschreiben dürfe, sondern ergebe sich erst aus dem kitschspezifischen Modus, in dem Menschen diesen schönen, allzu schönen Dingen begegnen.

Herausforderungen der Demokratie

Der Bezug zu aktuellem politischem Zeitgeschehen war über die ganze Reihe hinweg ein Merkmal der Vorträge gewesen; und dieser Zug trat am letzten Abend noch einmal in besonderer Deutlichkeit hervor. Der Politikwissenschaftler Hanspeter Kriesi sprach über zwei zentrale Herausforderungen der Demokratie in unserem jungen Jahrhundert, den Prozess der Globalisierung und das neue Gewicht der Medien. Dabei konnte Kriesi zeigen, wie die mit dem Globalisierungsprozess einhergehende De-Nationalisierung auf verschiedenen Wegen die Demokratien schwäche. Er sprach sich indes nicht gegen die De-Nationalisierung, sondern für eine Re-Demokratisierung des transnationalen Raums aus. Gleich im Anschluss daran stellte der Publizistikwissenschaftler Heinz Bonfadelli die Frage, ob sich durch das neue Medium Internet bisher zusätzliche Chancen für die Demokratie ergeben hätten. Seine Antwort war eine vorsichtig verneinende. Oder wie es Mike Martin schon am ersten Abend als wissenschaftliche Antwort par excellence deklariert hatte: «Es kommt darauf an.»

Weiterführende Informationen