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Kaum jemand in Europa rechnete am letzten Sonntag mit einem Wahlsieg der pro-europäischen Parteien in Serbien. Die Überraschung war daher gross, als die Resultate feststanden: Eine knappe Mehrheit der Wählenden hatte den Nationalisten eine Abfuhr erteilt und sich für den langen Weg aus dem politischen Abseits nach Europa entschieden.
«Dieses Wahlergebnis ist sehr erfreulich», begann Dr. Wolfgang Petritsch, österreichischer UNO-Botschafter in Genf, seinen Vortrag «Der Balkan als europäische Herausforderung» gestern Abend in der Aula der Universität. Der Sieg des pro-europäischen Kräfte in Serbien ist ein Zeichen für die Veränderungen am Balkan. Im Unterschied zu den 90er Jahren, als die politischen Krisen in den südwestlichen Balkanländern zu Krieg und Vertreibung führten, werden heute «die Konflikte in der Region nicht mehr mit der Waffe ausgetragen, sondern mit demokratischen Mitteln gelöst.»
Das erste Drittel dieses Jahres war ein kritischer Zeitabschnitt in der Geschichte des ehemaligen Jugoslawien: Innenpolitisch gärte es in Serbien, als Kosovo im Februar seine Unabhängigkeit erklärte und kurz darauf die Regierung in Belgrad aufgelöst wurde. Die vorgezogenen Parlamentswahlen schliesslich führten zum «seit langem bestem Wahlresultat der Reformkräfte». Sie könnten eventuell das Ende des fundamentalistischen Nationalismus spiegeln, dem sich Kostunica in den letzten Jahren immer stärker verschrieben hatte.
Der Wahlsieg hat aber auch seine Schattenseiten. So überlegen die Anhänger der sozialistischen Partei Milosevics, ob sie eine Koalition mit dem demokratischen Block bilden sollen. Dies könnte sie jedoch zu Steigbügelhaltern für die demokratische Regierung machen; die Regierung würde erpressbar und damit geschwächt werden. Ausserdem darf über den positiven Wahlausgang nicht vergessen werden, dass eine klare Spaltung in der serbischen Gesellschaft besteht: 50 Prozent der Bevölkerung wollen sich Europa gegenüber öffnen, aber 50 Prozent sind dagegen.
Im Grossen und Ganzen erachtet Petritsch die Lage in den meisten Ländern des ehemaligen Jugoslawien als stabil, wenn auch die Fortschritte in Richtung Demokratisierung, solider Wirtschaft und sozialer Zusammenhalt unterschiedlich gross sind.
Eine Ausnahme bildet im Augenblick Mazedonien, das «zunächst ein vielversprechender Erfolg der EU war». Durch das Veto der Griechen wurde den Mazedoniern der NATO-Beitritt verwehrt und damit eine mögliche Destabilisierung der Sicherheit im Land in Kauf genommen. Unverständlich ist auch, warum die EU Mazedonien noch kein Datum für die Beitrittsverhandlungen gegeben hat. «Dadurch», so Petritsch, «untergräbt die EU ihre eigenen Erfolge in dieser Region».
Insgesamt beurteilt Petritsch das wirtschaftliche Bild des Balkans besser als das gesellschaftspolitische. Einerseits ist das grosse wirtschaftliche Potential der westbalkanischen Länder im In- und Ausland erkannt worden und wird genutzt. «Andererseits ist der Krieg für die Menschen nicht vorbei», sagt Petritsch, «denn die Traumata sind noch nicht überwunden».
Als eine mögliche innerpolitische Ursache für die Kriege und den Zerfall Jugoslawiens erwähnt Pertisch die nationalistischen Strömungen, doch stellt sich auch die Frage, ob Jugoslawien Ende der 80er Jahre nicht seine Relevanz für den Westen verloren hatte. Europa und Amerika bereiteten die Auflösung der UdSSR und die Vereinigung Deutschlands zu dem Zeitpunkt grössere Sorgen, und «man verkannte die elementare Sprengkraft der Situation auf dem Balkan». Die europäischen Staaten spielten, nachdem der Krieg Anfang der 90er Jahre begonnen hatte, eine passive Rolle, bis es schliesslich zur «blutigen Kettenreaktion in Bosnien» kam. Als sie dann eingriffen, handelten sie überstürzt und ohne die Konsequenzen zu überlegen. Die EU hat aber Lehren gezogen aus den Fehlern von damals. «Die Verdichtung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Aussenpolitik ist eine unmittelbare Reaktion auf das Versagen der EU während der Balkankriege, ohne das ein Vertrag von Lissabon gar nicht denkbar gewesen wäre», erklärt Petritsch.
Die Entwicklung der Balkanländer Richtung Europa ist ein langwieriger Prozess, «das Ziel entsteht dabei auf dem Weg». Viele Voraussetzungen sind bereits erfüllt worden, die Wachstumsrate ist hoch und die internationalen Beziehungen beginnen sich zu normalisieren. Trotzdem müssen die einzelnen Länder stärker am «burden sharing» mit der EU zusammenarbeiten und lokale und regionale Initiativen übernehmen.
Um die weiterhin komplexen Aufgaben auf dem Balkan lösen zu können, braucht es viel Geduld, Zeit und «ein Augenmass, um die Fortschritte richtig zu bewerten». Mittlerweile hat Europa erkannt, dass im Bereich der Staatsbildung und Demokratisierung von Aussen nur bedingt eingegriffen werden kann, «dafür kann es sich auf den Unterbau konzentrieren und Voraussetzungen schaffen für demokratische Institutionen, eine funktionierende Verwaltung und gute Schulbildung». Viel Wert legt die EU auch auf die gegenseitige Anerkennung und Aussöhnung der Völker – ein Thema, dessen Bedeutung für die Überwindung der Kriegstraumata nicht unterschätzt werden darf. Letztlich entscheidet der Wille der einheimischen Politiker und der Behörden über den «Staatsaufbau einer Zivilgesellschft». Der EU bleibt aber als wichtigster Motivationsfaktor «das zentrale Reformmoment», um eine Veränderung der Situation in den ehemaligen jugoslawischen Ländern zu erreichen.